«Religiöse Friedensarbeit beschränkt sich nicht nur auf das Seelenheil»

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07.12.2016
Terror und Krieg – Religionen wirken als Brandbeschleuniger von Konflikten. Doch Religionen stiften auch Frieden. Ihr Vorteil gegenüber staatlichen Organisationen: «Religiöse Friedensarbeit kann den Menschen in einer existentiellen Tiefe erreichen», sagt die Theologin Christine Schliesser.

Frau Schliesser, Sie beschäftigen sich als Wissenschaftlerin mit dem friedensstiftenden Potenzial von Religionen. Ist das Christentum friedlich?
Religion ist zunächst immer ambivalent. Die christliche Religion kann aber auf produktive Ressourcen wie ihre Kernkonzepte Frieden, Versöhnung, Vergebung und Heilung zurückgreifen, wie sie das Neue Testament propagiert.

Und der Islam?
Auch im Islam gibt es konflikt- wie auch friedensfördernde Elemente. Es macht einen Unterschied, ob die Barmherzigkeit Allahs betont wird oder Suren, die zum Kampf gegen die Ungläubigen aufrufen.

Was zeichnet religiöse Friedensarbeit aus?
Religiöse Friedensarbeit sieht sich in der Regel nur dem Frieden verpflichtet und nicht etwa einer Regierung oder anderen Interessen. Dadurch werden Akteure religiöser Friedensarbeit oft als neutral und vertrauenswürdig angesehen. Ein bekanntes Beispiel ist die katholische Gemeinschaft Sant’Egidio, die erfolgreich zwischen den Konfliktparteien im Bürgerkrieg von Moçambique vermittelte. Dank Sant’Egidio unterzeichneten diese 1992 einen Friedensvertrag. Sant’Egidio spricht dabei von ihrer «schwachen Macht».

Was meinen Sie mit schwacher Macht?
Sant’Egidio ist eine kleine religiöse Gemeinschaft. Sie kann weder auf militärische noch auf staatliche finanzielle Hilfe zählen, um ihre Position durchzusetzen. Doch genau darin liegt ihre Stärke. Sie verfolgt keine «hidden agenda», sondern dient allein dem Frieden. In vielen Teilen der Welt geniessen religiöse Führer hohes Ansehen.

Dennoch: In der Geschichte und auch heute wirken die Religionen als Brandbeschleuniger von Konflikten, etwa in Nordirland, im Krieg in Ex-Jugoslawien oder im Nahen Osten, in Syrien und im Irak.
Religionen bergen Potential für Konflikte und Gewalt, aber auch für Frieden und Versöhnung. Die Medien stellen Religion vor allem als konflikttreibend und gewaltauslösend dar. In der Forschung hingegen findet seit einiger Zeit ein Paradigmenwechsel statt. Man untersucht und betont nun auch vermehrt das friedens- und versöhnungsstiftende Potenzial der Religionen. Bei Ihren Beispielen ist tatsächlich eine starke religiöse Komponente vorhanden. Doch gibt es in jedem dieser Länder auch erfolgreiche religiös motivierte Friedensinitiativen. Darüber wird nur viel seltener berichtet.

Weil Krieg interessanter ist als Frieden?
Ja, Friede empfindet man eher als langweilig. Friedensarbeit findet oft in kleinen, unscheinbaren Schritten statt. Gewalt hingegen hat etwas Aufregendes. Gewalt lässt sich auch viel leichter darstellen als Frieden.

Trotzdem finden Friedensengel dann die mediale Aufmerksamkeit.
Versöhnungsgeschichten, die mit einzelnen Personen verknüpft sind, erregen öffentliches Interesse. Zwei Beispiele: Der anglikanische Priester Michael Lapsley verlor 1990 im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika beide Hände und ein Auge. Später gründete er das «Institute for the Healing of Memories», das sich bis heute für Versöhnung einsetzt. Und in Nigeria wurden die erbitterten Feinde Imam Muhammad Aschafa und Pfarrer James Wuye Freunde. Sie gründeten 1998 das «Inter-Faith Mediation Centre» und leisten seither gemeinsam Versöhnungsarbeit. Solche persönlichen Geschichten sind eindrücklich, authentisch und wirkungsvoll.

Und zeigen, wie Friedensarbeit funktioniert?
Religiöse Friedensarbeit beschränkt sich in der Regel nicht nur auf das Seelenheil, sondern bezieht den ganzen Menschen ein. In Ruanda etwa predigen christliche Kirchen nach dem Genozid von 1994 Versöhnung nicht nur von der Kanzel. Sie stehen den Überlebenden des Genozids mit Rat und Tat praktisch zur Seite, beim Häuserbau und in der Landwirtschaft, auch mit Mikrokrediten. Religiöse Friedensarbeit kann den Menschen in einer existentiellen Tiefe erreichen, in seiner Schuld, Rache und Trauer. Diese Tiefe zu erreichen, haben säkulare Nichtregierungsorganisationen eher Mühe.

Welche Vorteile haben die Kirchen gegenüber staatlichen Behörden in der Friedensarbeit?
Neben der Botschaft der Versöhnung ist es die Nähe zu den Menschen. Durch ihre verschiedenen Aktivitäten wie sonntägliche Predigten, regelmässige Jugendtreffen oder Frauenarbeit stehen die Kirchen im direkten Kontakt zu den Menschen und können die Botschaft des Friedens wirksam verbreiten. Und sie legen Wert auf Gemeinschaft. In Ruanda versuchen die Kirchen Beziehungen aufzubauen zu den Überlebenden des Genozids. Sie begleiten sowohl Opfer als auch Täter. Für beide ist diese soziale Unterstützung lebenswichtig.

Birgt religiöse Friedensarbeit auch Gefahren?
Christliche Friedensarbeit geschieht als Reich-Gottes-Arbeit, das heisst, sie sieht sich durch Jesus Christus motiviert, orientiert und verpflichtet. Hier lauern zwei Gefahren: dass Kirchen die Friedensarbeit instrumentalisieren, etwa um neue Mitglieder zu gewinnen, und dass die Friedensarbeit zum Selbstzweck wird, etwa um finanzielle Mittel zu generieren.

Religiöse Friedensarbeit hilft, Kriege zu bewältigen. Kann sie auch Kriege verhindern?
Die christlichen Kirchen könnten bei der Prävention einen entscheidenden Beitrag leisten. Sie können Kindern und Jugendlichen Modelle für gewaltfreie Konfliktlösungen zeigen, nicht zuletzt indem sie selbst Vorbild sind. Auch der gegenseitige Austausch verstärkt die friedensfördernde Wirkung, indem zum Beispiel Kirchenmitglieder aus Nigeria nach Ruanda reisen, um von den Erfahrungen der dortigen Kirchen zu lernen und umgekehrt.

In Afrika hat die Religion einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert als bei uns. Braucht es im säkularisierten Europa religiöse Friedensarbeit?
Ein Blick in jede beliebige Tageszeitung zeigt, dass Ansätze gewaltfreier Konfliktlösungen auch bei uns dringend notwendig sind. Es wird oft von einer Verrohung der Gesellschaft gesprochen. Da könnten sich die Kirchen produktiv einbringen. Im Unterschied zu afrikanischen Ländern verortet man Religion bei uns im Privaten. Die Öffentlichkeit folgt einer säkularen Vernunft. Das birgt die Gefahr, dass wir das Religiöse dem Irrationalen, Sektenhaften und Fundamentalistischen zuordnen und damit säkulare Gewalt einfacher rechtfertigen.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir die Anschläge vom 13. November 2015 in Paris, bei denen 130 Menschen starben. Die Angreifer wurden als Psychopathen und fundamentalistische Barbaren, also als irrational und unmenschlich, dargestellt. Es folgte die Kriegserklärung Frankreichs, das heisst der Aufruf, auf diese «religiös-fanatische» Gewalt mit «säkularer» und «rational verantworteter» Gewalt zu reagieren. Diese Rhetorik und Denkweise machen es einfach, auch unverhältnismässige säkulare Gewalt zu legitimieren. Ich will damit in keiner Weise religiös-fundamentalistische Gewalttaten rechtfertigen, sondern zeigen, dass es nicht unproblematisch ist, vorschnell von «religiöser Gewalt» im Gegensatz zu «säkularer Gewalt» zu sprechen.

Sollten Kirchen dezidierter auftreten und die treibenden Kriegsparteien nennen?
Es gehört zu den Aufgaben der Kirchen, unerschrockene Boten der Wahrheit zu sein. Einseitige Schuldzuweisungen sind aber nicht sinnvoll. Vorbildlich ist da die Presbyterianische Kirche in Ruanda. Sie setzte bei sich selber an und verfasste nach dem Genozid ein Schuldbekenntnis, das «Bekenntnis von Detmold». Sie bekannte ihre eigene Schuld und bat um Vergebung. Dies öffnete den Weg für Versöhnung und glaubwürdige Friedensarbeit.

Karin Müller / Kirchenbote / 7. Dezember 2016

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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