«Wir nehmen die Menschen so, wie sie sind»

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25.01.2018
Veronika Beck vom Luzerner «Paradiesgässli» verrät das Erfolgsgeheimnis der Anlaufstelle für Eltern und Kinder aus suchtbetroffenen Familien.

Frau Beck, Sie haben täglich mit suchtkranken Eltern und ihren Kindern zu tun. Trinken Sie selber Alkohol?

Ja, ab und zu. Und ich geniesse das. Ich finde, wer Alkohol trinkt, ist ja noch nicht süchtig. Es ist immer eine Frage des Masses.  

Ab wann kann man von einer Sucht sprechen?

Dies ist dann der Fall, wenn man eine Droge braucht, um sich normal zu fühlen oder um gewisse Lebenssituationen auszuhalten. Der Weg in die Sucht erfolgt oft schleichend und fängt meist früh an.

Was führt zur Sucht? 

Es gibt Menschen, die Stress und Druck bewältigen, indem sie trinken oder Drogen konsumieren. Oft merkt man lange nicht, dass jemand süchtig ist. Das äussere Bild stimmt und wird aufrechterhalten. Alkohol ist ja gesellschaftlich akzeptiert.

Wer ist besonders gefährdet?

Eine der grossen Fragen im Leben ist: Wie gehe ich mit schwierigen Situationen um? Kinder und Jugendliche, die nie erlernt haben, dass man konstruktiv mit Krisen und Problemen umgehen kann; wer dies nicht zu Hause vorgelebt gekriegt hat, ist gefährdet, destruktiv mit Konflikten umzugehen. Dazu gehört auch der Suchtmittelkonsum. Für Kinder ist das Aufwachsen mit süchtigen Eltern, die oft auch psychisch nicht stabil und armutsbetroffen sind, schwierig.

Können Sie hier Einfluss nehmen?

Ja. Diesen Kindern und ihren Eltern wollen wir mit dem «Paradiesgässli» eine «Insel» bieten, wo sie Sicherheit, soziale Kontakte und Unterstützung in allen Lebensberei-chen finden. Das Zauberwort heisst: Resilienz. Das ist die Fähigkeit, mit Problemen positiv umgehen zu können, widerstandsfähig zu sein. Diese Fähigkeit wollen wir fördern, indem wir Kinder in schwierigen Familiensituationen unterstützen, ihr Selbst-bewusstsein und dadurch ihre Persönlichkeit stärken. Das gleiche gilt übrigens auch für die Eltern.

Wer sind Ihre «Kunden»?

Es sind Menschen, die von harten Drogen abhängig sind oder waren. An zweiter Stelle steht der Alkohol. Wir haben aber auch wenige Magersüchtige, die wir betreuen. Oft kommen die Süchtigen selbst aus schwierigen Familienverhältnissen, wo destruktive Verhaltensweisen an der Tagesordnung waren. Natürlich kann man das nicht verallgemeinern.

Welche Angebote haben Sie speziell für Kinder? 

Da Eltern mit Suchthintergrund oft nicht arbeiten und IV-Bezüger sind, sind sie mit den Kindern zu Hause. Ihre sozialen Kontakte sind aufgrund ihrer Geschichte meist sehr reduziert. Dieser für die Kinder ungünstigen Situation stellt das «Paradiesgässli» am Montagnachmittag einen Art Hort entgegen. Dort kommt jeweils eine Gruppe von Vorschulkindern zusammen. Das Ziel ist es, dass die Kleinen Sozialkompetenzen erweitern und allfällige Defizite früh erkannt und im besten Fall vermindert werden können. Während wir die Kinder im Hort betreuen, haben die Mütter oder Väter Zeit für sich und Termine, die sie ohne Kinder wahrnehmen müssen. 

Schafft es das «Paradiesgässli», die Kinder aus Drogenfamilien von der Sucht abzuhalten? 

Wer zu uns kommt, hat nichts zu befürchten. Wir nehmen die Menschen so, wie sie sind und zwingen niemanden, unsere Angebote zu nutzen. Manchmal braucht es auch mehrere Anläufe, bis Eltern sich von uns regelmässig begleiten lassen. Die ersten Kinder, die wir betreuten, sind heute erwachsen. Es kommt immer wieder vor, dass uns junge Menschen besuchen, um zu zeigen, was aus ihnen geworden ist. Was wir tun, wirkt sich für die Familien offenbar positiv aus. Wer sich bei uns Unterstützung und Beratung holt, kann etwas aus sich machen. Es wäre aber vermessen, zu sagen, dass unsere Angebote allein verantwortlich sind für die positive Entwicklung eines jungen Menschen. Natürlich gibt es auch traurige Beispiele, bei denen die Kinder in die Fussstapfen der Eltern getreten sind.

Welche Angebote nutzen Erwachsene bei Ihnen?

Die Eltern, die zu uns kommen, verfügen über wenig Selbstvertrauen. Viele von ihnen sind überzeugt, dass man es ihnen ansieht, dass sie «Drögeler» sind. Sie fühlen sich stigmatisiert. Diesen Menschen vermitteln wir, dass sie wertvolle Mitglieder der Gesellschaft sind. Das geht nicht von heute auf morgen. Wir unterstützen sie im täglichen Leben und fördern ihr Verantwortungsbewusstsein, gerade auch bei der Erziehung ihrer Kinder und in weiteren Lebensbereichen.

Fachleute sagen, Drogenkonsumenten sollten ihr Umfeld verändern, um von ihrer Sucht loszukommen. Sind Ihre Veranstaltungen mit Süchtigen da kein Widerspruch?

Dieser Therapiegedanke ist heute überholt. Man kann Menschen isolieren. Was aber, wenn sie in ihren Alltag zurückkehren, wo sie ihr «früheres» Leben wieder einholt? Wir unterstützen die Menschen, damit sie mit ihrer Suchtproblematik im Alltag umgehen können. Unsere Treffs haben auch einen Selbsthilfecharakter. Im Sommer führen wir ein Familienlager durch. Bedingung ist, dass die Eltern während dieser Woche ausser verschriebenen Medikamenten und Substituten keine Drogen konsumieren und für ihre Kinder die Verantwortung übernehmen können. Die Eltern setzen alles daran, teilnehmen zu können. Da sehen Sie, welche Energien so etwas freisetzen kann. 

25.01.18 | Philippe Welti

 

 

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