«Selbst Kirchenferne haben grosse Ansprüche»

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18.08.2016
Vor den Sommerferien stellte Thomas Schaufelberger ein neues Konzept für das Pfarramt vor, das die Kirchgemeinden verändern wird. Der Leiter der Pfarrausbildung sagt, warum Einzelkämpfer nicht mehr gefragt sind.

Thomas Schaufelberger, was ist ein guter Pfarrer, eine gute Pfarrerin?
Ein guter Pfarrer sollte authentisch sein und überzeugen. Man sollte spüren, dass seine Botschaft und sein Leben übereinstimmen. Er sollte Menschen gerne haben und gerne mit ihnen unterwegs sein. Er sollte Unsicherheit aushalten, nicht zu früh Antworten geben, andere ermutigen, etwas zu tun und sich zurücknehmen, so dass sich diese entfalten können.

Ist das nicht ein enormer Anspruch? Die Pfarrschaft sollte volksnah und auch akademisch sein, den Auftritt lieben und sich bescheiden zurücknehmen und einen Draht zu Kindern, Jugendlichen, deren Eltern, Erwachsenen und Senioren haben.
Natürlich, Pfarrer oder Pfarrerin ist ein unglaublich anspruchsvoller und auch spannender Beruf. In der Zukunft jedoch wird das Pfarramt nicht überall gleich aussehen. Je nach Kirchgemeinde werden das Anforderungsprofil und die Arbeit völlig variieren. Es ist ein enormer Unterschied, ob ich in einem kleinen Dorf in den Bündner Bergen arbeite oder in einem Team einer fusionierten Kirchgemeinde in Zürich.

Das sind beinahe zwei verschiedene Berufe?
Ja. Da braucht es Flexibilität und Bewusstsein für die eigenen Stärken. Nicht jeder ist für das Basler Münster geeignet und nicht jeder für das Engadin. Deshalb ist es wichtig dafür zu sorgen, dass die richtigen Leute an die richtigen Stellen kommen.

Wie wichtig ist der persönliche Glaube?
Ohne religiöse und spirituelle Praxis geht es im Pfarramt nicht. In der Zukunft wird der Glaube noch wichtiger. Nicht im dem Sinn, genau zu wissen, was ich zu glauben habe, sondern im reformatorischen Sinn als Suche mit all den existentiellen Zweifeln, Anfragen und Anfechtungen.

Müssen Pfarrer und Pfarrerinnen an die Auferstehung Christi glauben?
Unbedingt. Doch wie interpretiert man Auferstehung? Was bedeutet sie für mein Leben? Die reformierte Kirche muss die Stärke und Offenheit haben, ein Dach für die verschiedensten Frömmigkeitsarten zu bieten. Wir brauchen Pfarrerinnen und Pfarrer, die an die leibliche Auferstehung glauben ebenso wie jene, welche die Auferstehung auf ihre ganz persönliche Art verstehen. Für eine Kirche im reformatorischen Sinn ist es kein Problem, wenn sie über ein breites Spektrum an Pfarrpersonen verfügt, die unterschiedlich ticken. Wir Reformierte kennen keine Dogmen. In dieser Hinsicht ist die reformierte Kirche zukunftsfähig, denn auch ihre Mitglieder haben die verschiedensten Glaubensvorstellungen. Vielfalt ist Stärke.

Über Jahrhunderte bildete das Pfarrhaus ein geistliches, kulturelles und gesellschaftliches Zentrum.
Ja, das ist vorbei – jedenfalls flächendeckend verstanden.

Wollen Pfarrerinnen und Pfarrer sich nicht länger ganz in den Dienst der Kirchgemeinde stellen?
Die jüngeren Theologinnen und Theologen sowie deren Partner sind nicht mehr bereit, sich diesem Totalanspruch über ihr Leben zu unterziehen. Die romantische Vorstellung vom Pfarrhaus mit Pfarrfamilie und Pfarrfrau, die rund um die Uhr mithilft, ist ein Modell, das ausstirbt. Wir brauchen auch Konzepte für Leute, die nur teilzeitlich arbeiten wollen oder können.

Ist im Pfarramt in Zukunft um 17.30 Uhr Büroschluss?
Der Pfarrberuf ist generell kein Bürojob. Er bleibt Berufung, mit Menschen in verschiedenen Lebenssituationen unterwegs zu sein. Deshalb ist er komplexer, lässt sich nicht auf Bürozeiten beschränken und stellt hohe Anforderungen an die Professionalität und die Teamfähigkeit. Wie das Pfarramt gestaltet wird, hängt auch vom Einzelnen ab. Es gibt Pfarrpersonen, die gerne mitten im Dorf leben und sich auf die Begegnung in der Migros freuen. Und andere, die lieber ausserhalb wohnen und im nächsten Dorf einkaufen, so dass sie niemanden antreffen. Die Kirche braucht beide Typen.

Wie weit sind den Kirchgemeinden diese Veränderungen bewusst?
Die Verantwortlichen erleben dies etwa, wenn ihnen eine junge Theologin im Bewerbungsgespräch erklärt, sie könne nicht in der Gemeinde wohnen. Gerade bei Teilzeitstellen ist es für die meisten Behörden nicht mehr so entscheidend, ob der Pfarrer oder die Pfarrerin im Pfarrhaus wohnt.

Weil die Pfarrschaft nicht mehr so sehr gefragt ist?
Nein, weil sich der Lebensstil der Menschen geändert hat. Der Kontakt zur Kirche ist nicht mehr territorial geprägt. Ob die Leute beim Spazieren den Pfarrer oder die Pfarrerin im Pfarrgarten sehen, ist nicht mehr so wichtig. Entscheidend ist, dass Pfarrerinnen und Pfarrer dann da sind, wenn man sie braucht: Bei einem Todesfall, bei Taufe, Hochzeit oder bei seelsorgerlichen Problemen. Ich will jedoch das eine nicht gegen das andere ausspielen. Ich weiss aus meiner Zeit als Pfarrer in Stäfa, dass die Eltern der Konfirmanden es schätzten, wenn sie mich auf dem Sportplatz antrafen. Doch für andere spielt dies keine Rolle mehr. Die Menschen sind heute mobil.

Trotzdem sind die Erwartungen an die Pfarrschaft weiterhin hoch?
In der Tat. Pfarrerinnen und Pfarrer sind das Aushängeschild der Kirche. Selbst Kirchenferne haben grosse Ansprüche. Sie erwarten einen individuellen und professionellen Service, der auf ihre Wünsche eingeht. Ich würde sogar behaupten die Ansprüche sind gestiegen.

Inwiefern?
Einerseits erwartet jeder, individuelle und professionelle Gottesdienste – wenn man denn schon einmal in die Kirche kommt Und andererseits nimmt das Ansehen des Amtes ab. Der «Herr Pfarrer» steht nicht mehr auf einem Sockel, sondern ich muss mir den Status erarbeiten und mit meiner Persönlichkeit ausfüllen. Das gleiche erleben auch Lehrerinnen und Lehrer sowie Ärzte.

Sie waren zehn Jahre lang Pfarrer in Stäfa. Was war für Sie der schönste Moment?
Der «Sofagottesdienst» bildete für mich eines der Highlights. Viermal im Jahr gestalteten junge Erwachsene diesen Gottesdienst. Ich steckte viel Energie in das Projekt. Es war schön zu sehen, wie das Team selbstständig wurde und welche Glaubensschritte sie machen. Plötzlich fingen sie an, Gebete und die Predigt selber zu schreiben. Als ich einen Bandscheibenvorfall hatte, mussten die jungen Erwachsenen die Feier einmal alleine durchziehen. Sie machten es wunderbar – ohne mich. Für mich war dies ein Schlüsselerlebnis: Als Pfarrer kann ich in Menschen investieren, so dass sie und die Gemeinde daran wachsen. Ich muss nicht im stillen Kämmerlein alles alleine erarbeiten und als Einzelkämpfer das Amt auf meinen Schultern tragen.

Wird der Pfarrer oder Pfarrerin in Zukunft zum Animator?
Die Frage wird mir oft gestellt. In ihr klingt etwas Abwertendes. Meist folgt dann: Wozu braucht es ein Theologiestudium, wenn Laien den Gottesdienst feiern können? Es ist meine Überzeugung, dass das Pfarramt die Aufgabe hat, Menschen zu befähigen, Kirche zu gestalten. Dieses urreformierte Anliegen geht weit über die Animation hinaus. Das bedeutet theologische Knochenarbeit und braucht die Fähigkeit, nichts zu tun.

Die Hände in den Schoss zu legen?
Ich meine nicht Faulheit. Die Zeit, dass Profis für andere Kirche machen und den Glauben stellvertretend für andere leben, ist Vergangenheit. Pfarrerinnen und Pfarrer sollten sich zurücknehmen können und mit ihrem Glauben und ihrer Theologie Impulse setzen, damit Menschen aus ihrem Glauben heraus erneut Kirche gestalten.

Leidet nicht die Qualität, wenn Laien auf die Kanzel steigen?
Wir brauchen beides: Eine Dienstleitungskirche und eine Beteiligungskirche. Ein Teil der Aufgaben bleibt professioneller Service. Als Volkskirche haben wir unseren Mitgliedern versprochen, dass wir sie eines Tages beerdigen, selbst wenn sie Jahrzehntelang nie einen Fuss in die Kirche gesetzt haben. Dieses Versprechen müssen wir einlösen und professionelle Arbeit leisten. Daneben braucht es eine Beteiligungskirche, die Räume auftut, in denen die Leute Lust bekommen, sich einzubringen und mitzuwirken. So entstehen neue kirchliche Gemeinschaften.

Zum Schluss: Wäre Jesus ein guter Pfarrer gewesen?
Wir überlegen uns manchmal, ob Jesus nach dem neuen Kompetenzstrukturmodell für das Pfarramt geeignet wäre oder nicht. Mit seiner Art, wie er mit Menschen unterwegs war, wie er sie geprägt, ermutigt und ermächtigt hat, wäre er kein schlechter Pfarrer gewesen. Vielleicht sogar der beste.

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Interview: Tilmann Zuber / Kirchenbote / 18. August 2016

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