«Kirchen machen viel Gutes»

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28.06.2021
Ende August hält die bekannte Ökonomin Monika Bütler in der Luzerner Peterskapelle eine Predigt. Die Ökonomin über Glauben, Familienheilige und Wirtschaft in der Corona-Pandemie.

Frau Bütler, sind Sie schon nervös?
Es ist für mich in der Tat aussergewöhnlich, in einer Kirche aufzutreten. Nervös bin ich immer, aber erst kurz vor dem Vortrag, auch wenn ich oft vortrage. Dozentinnen «predigen» ja quasi die halbe Zeit.

Kommen wir zur Gretchenfrage. Wie halten Sie es mit der Religion?
Ich komme aus einem sehr katholischen Haushalt. Väterlicherseits gibt es sogar eine Heilige in der Familie, Maria Bernarda Bütler. Und der Bruder meiner Mutter sowie sein Sohn haben in der Schweizergarde in Rom gedient. Ich selbst bin aber schon lange Zeit agnostisch und bin, wie es der ehemalige Nationalrat Jo Lang ausgedrückt hat, eine Kultur-Katholikin.

Was verstehen Sie unter einer Kultur-Katholikin?
Die Kultur der Religion, die Feste und Gemeinschaft haben mich natürlich geprägt. Ich habe gute Erinnerungen an den Pfarrer aus meiner Kindheit. Ich bin in Windisch bei Brugg aufgewachsen, das damals mit in- und ausländischen Zuzügern stark gewachsen ist. Der Pfarrer, er ist erst kürzlich mit 96 Jahren gestorben, hat die Menschen integriert, hat versucht, die Gemeinde zu modernisieren und baute sogar ein Jugendzentrum im Keller auf.

Selbst eine Heilige in der Familie konnte Sie nicht überzeugen, in der katholischen Kirche zu bleiben?
Maria Bernarda war eine Ordensschwester, die sich vor allem durch die Gründung von Spitälern, Schulen und Heimen in Cartagena, Kolumbien, wo sich ihr Orden und die nach ihr benannten Schulen und das Spital nach wie vor befinden, ausgezeichnet hat. Diese Leistungen für die Gemeinschaft haben mich immer beeindruckt. Mit den Wundern habe ich eher meine Mühe. Ich war schon als Kind nicht gläubig, auch wenn mich das Christentum und die Religionen im Allgemeinen durchaus interessieren. Vielleicht bin ich zu sehr Naturwissenschaftlerin, vielleicht fehlt mir auch die Vorstellungskraft. So sehr ich mir ein Jenseits vorstellen wollte, ich schaffte es nie. Ausgetreten bin ich allerdings erst nach gewissen Ereignissen im Bistum Chur.

Wie nehmen Sie als Ökonomin die reformierte Kirche wahr?
Ich bin zu weit weg, als dass ich mich speziell zur reformierten Kirche äussern könnte. Kirchen, ob katholisch oder reformiert, machen viel Gutes, gerade in der Jugendarbeit, der Betreuung der Alten oder der Integration von Ausländern. Gleichzeitig ist Kirche nicht gleich Kirche. Es hängt stark davon ab, wie sie gelebt wird, und von den Menschen, die sie mit Leben füllen. Das Verhältnis der Kirchen zum Staat sehe ich eher kritisch.

Welches Verhältnis sprechen Sie an?
Es gibt weder bei den Katholiken, den Reformierten noch den Christkatholischen Kirchen eine klare Trennung von Kirche und Staat. Die Kirchensteuern werden durch den Staat eingezogen. Darüber werden wir angesichts der sich ändernden Bevölkerungsstruktur sicher noch diskutieren müssen.

Sie wollen die Kirchensteuern abschaffen?
Verstehen Sie mich nicht falsch. Die Kirchen übernehmen extrem wichtige, gesellschaftspolitische Aufgaben. Das war auch immer die Begründung, die man ins Feld führte, dass keine vollständige Trennung zwischen Kirche und Staat gezogen werden kann. Die Aufgaben, die die Kirche übernimmt, könnte man jedoch auch mit Leistungsaufträgen abgelten. Weshalb sollten die Kirchensteuern bei Katholiken und Protestanten vom Staat eingezogen werden, nicht aber bei den jüdischen Gläubigen?

Wann immer die Kirche sagt, sie muss Geld einnehmen, wird sie schräg angesehen. Das müssten doch gerade Sie als Ökonomin verstehen?
Es gehört dazu, dass sich eine Kirche finanzieren muss. Auch Organisationen müssen Löhne bezahlen und ihre Projekte finanzieren. Die Frage ist einfach, ob die Steuern halbautomisch über den Staat eingezogen werden müssen. Zudem, wenn immer mehr Menschen aus der Kirche austreten, fragt es sich ohnehin, wie die Kirchen die gemeinschaftlichen Aufgaben noch ausführen können oder sollen.

Wie gross ist der Einfluss der Religionen auf die Ökonomie?
Mit der besseren Verfügbarkeit historischer Daten können wir heute den Einfluss der Religionen auf die wirtschaftliche Entwicklung in verschiedenen Regionen der Welt nachzeichnen. So zeigt sich, dass zum Beispiel die Reformation eine sehr positive Auswirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung Europas hatte.

Sie sprechen die reformierte Arbeitsethik an?
Man ging tatsächlich lange Zeit davon aus, dass das Arbeitsethos verantwortlich war für die höhere Wirtschaftsleistung in protestantischen Regionen. Daten aus Preussen legen allerdings den Schluss nahe, dass der Mechanismus komplizierter ist als einfach das vermeintlich höhere Arbeitsethos. Luther und seinen Mitstreitern war es wichtig, dass auch die breite Bevölkerung die Bibel lesen konnte. Dadurch stieg der Anteil der Leute, die lesen konnten, stark an. Wissen war und ist die Basis wirtschaftlichen Aufschwungs und Lesen der wichtigste Faktor der Zivilisation. Das sehen wir auch heute noch in ärmeren Ländern. Die wirtschaftliche Entwicklung hängt stark mit dem Anteil der Lese- und Schreibkundigen zusammen.

Sie sind Mitglied der Covid-19 -Taskforce des Bundesrats. Welche Erkenntnisse ziehen Sie nach 1,5 Jahren Pandemie?
Mich hat beeindruckt, wie viele Menschen alles stehen und liegen gelassen haben, um anderen zu helfen. Firmen, Privatpersonen, Organisationen und Wissenschaft haben sich immer wieder neu organisiert, damit wir gut durch die Krise kommen. Viele davon, ohne dafür entschädigt zu werden. Dieser Zusammenhalt und die trotz Reibereien offene Diskussionskultur zeichnet die Schweiz aus. Wir sind wirtschaftlich gut durch die Krise gekommen, auch dank der schnellen staatlichen Hilfe für betroffene Menschen und Firmen.

Gab es auch etwas Negatives?
Die zögerliche politische Reaktion auf die schnell ansteigenden Fallzahlen im Herbst hat viele Menschenleben gekostet. Mir sind die Mechanismen der Politik wahrscheinlich noch fremder als früher, auch wenn ich schon seit 20 Jahren als Wissenschaftlerin in der Politikberatung bin. Letztlich geht es nicht immer um die Sache, sondern darum, Mehrheiten zu bilden oder zu gewinnen. Gleichzeitig ist es auch unheimlich schwierig so eine Krise zu managen. Mit der Zeit ändern die Leute ihr Verhalten und die Massnahmen wirken weniger oder anders. Es steht allen in Wissenschaft und Politik an, demütig zu bleiben.

Hat es Ihnen als Ökonomin nicht widerstrebt, dass die Wirtschaft so heruntergefahren wurde?
Die Frage ist nicht, was uns die Massnahmen kosten im Vergleich zu einer idealen Welt ohne Virus; die gab es im März 2020 nicht mehr. Sondern ob ein Land mit stärkeren Eindämmungsmassnahmen vielleicht wirtschaftlich schneller durch die Krise kommt und dabei erst noch Menschenleben rettet. Schweden, zum Beispiel, hat seine Restaurants nie geschlossen. Die Gastro- und Unterhaltungsbranche wurde dennoch genau so hart getroffen wie unsere. Der Schweiz geht es heute wirtschaftlich und vor allem gesundheitlich besser als Schweden.

Waren Sie stets überzeugt davon, die richtige Empfehlung abgegeben zu haben?
Eine Präzisierung. Wir haben meist keine Empfehlungen abgegeben, sondern wissenschaftliche Grundlagen für politische Entscheidungen geliefert. Aber Zweifel gehören zur Wissenschaft. Ich hatte zahlreiche schlaflose Nächte. Letztes Jahr im April hatten wir kaum wissenschaftliche Evidenz, um direkte Vergleiche ziehen zu können, höchstens mit der Spanischen Grippe vor hundert Jahren. Heute, nach einem Jahr, sind wir klüger. Die damaligen Einschätzungen haben sich als richtig erwiesen.

Interview: Carmen Schirm-Gasser, kirchenbote-online

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