Beziehungen und Erlebnisse ermöglichen

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20.05.2022
Ab dem 1. Juni 2022 ist Christina Aus der Au neue Kirchenratspräsidentin der Evangelische Landeskirche Thurgau. Welche Ziele verfolgt sie?

In aufstrebenden Kirchgemeinden «essen und trinken die Menschen oft gemeinsam»: Das habe eine Analyse ergeben, sagt Christina Aus der Au. Der Kirchenkaffee oder andere Formen des gemeinschaftlichen Zusammenseins seien deshalb nicht zu unterschätzen, auch wenn hierfür immer wieder neue Formen erfunden werden müssten, um die Menschen zu erreichen, sagt die Theologin und Hochschuldozentin für Religionen, Ethik und Politik: Sie übernimmt per 1. Juni 2022 das Präsidium des Kirchenrats der Evangelischen Landeskirche Thurgau von Wilfried Bührer. In ihrer neuen Funktion mit 55 Stellenprozenten will sie dazu beitragen, dass die Kirche und ihre Botschaft für Menschen wieder relevant wird. Zugleich wird sie Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Thurgau (PHTG) bleiben.

«Ich werde hinausgehen»
Sie sei sich durchaus bewusst, dass dies nicht einfach sei. Es warte Knochenarbeit auf sie und den Kirchenrat: «Ich habe Respekt vor dem, was auf mich zukommt, aber ich muss es nicht alleine machen.» Sie freue sich auf eine gute und intensive Zusammenarbeit mit den für einzelne Regionen verantwortlichen Dekanen, den Kirchgemeindepräsidien und den theologischen und diakonischen Mitarbeitenden. Die einzelnen Kirchenratsmitglieder und der Kirchenratsaktuar seien nahe an den Gemeinden. Auch sie persönlich wolle Kontakte bewusst pflegen: «Ich werde hinausgehen, wenn ich auch nicht grad versprechen kann, dass ich im nächsten halben Jahr schon alle 61 Gemeinden besucht habe.»

Zuhören und zusammenarbeiten
Es sei fehl am Platz, alles auf den Kopf zu stellen. Es gehe jetzt zuerst einmal darum, zuzuhören und mit den Menschen zu reden, die in der Kantonalkirche oder in Kirchgemeinden Verantwortung tragen. Es stimmt sie zuversichtlich, dass in diversen Übergangstreffen des bestehenden Kirchenrates mit den neuen Mitgliedern gute und tragfähige Verantwortlichkeiten definiert werden konnten: «Es kam alles auf den Tisch, und es bot sich an, dass Paul Wellauer dank seiner Erfahrung beim Sozialwerk Pfarrer Sieber das Ressort Diakonie übernimmt. Es freut mich, dass sich auch diese Zusammenarbeit gut entwickelt.» Dies sei umso wertvoller, als Wellauer ursprünglich auch für das Präsidium kandidiert habe.

Neues finden, scheitern können
Gemeinsam gehe es darum, den in ihren Augen hohen Dienstleistungs- und Unterstützungscharakter des Kirchenrates und der Kirchenratskanzlei beizubehalten und weiterzuentwickeln. Klar sei aufgrund der aktuellen gesellschaftlichen Situation, «dass wir nicht sagen können, wir machen das Gleiche noch die nächsten 30 Jahre». Wo aber sieht sie die Thurgauer Kirche in zehn Jahren? «Wir werden neue Formen finden, die den Menschen entsprechen, und den Glauben als etwas Selbstverständliches und Alltägliches in den Fokus rücken.» Biblische Inhalte sollten ansprechend vermittelt werden und die Kirche in der Gesellschaft relevant bleiben und gestärkt werden: «Es geht um Beziehungen, Erlebnisse, Emotionen – es geht ums Leben!», ist sie überzeugt. Menschen, die sich im kirchendistanzierten Umfeld begegnen, seien ihr ein besonderes Anliegen: «Auch dort kann man problemlos von Gott und Glauben reden», ermutigt sie die Kirchenmitglieder. Die von ihrem Vorgänger stark geförderte Startup-Stelle sei eine gute Basis für die Zukunft, ist sie überzeugt – und: «Man darf auch scheitern! Um ohne Angst Neues zu wagen, müssen wir auch eine Fehlerkultur unterstützen.»

«Keine einheitliche Kirchensosse»
Aus der Au will «keine einheitliche Kirchensosse über den Thurgau giessen». Es gebe zwar zwei grosse Pools mit den unterschiedlichsten Strömungen. Gerade in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft will sie, dass die Kirche vormacht, wie unterschiedlich denkende Menschen konstruktiv miteinander umgehen können. «Denn wir sind alle zusammen Leib Christi», betont sie. Verschiedene Gottesbilder legen ihrer Ansicht nach nahe, dass «wir einen grossherzigen Gott haben». Ein Anliegen sind ihr überdies die verantwortungsbewusste Reflexion aktueller Themen sowie die Ausbildung von Pfarrpersonen und Diakonieverantwortlichen. Die Thurgauer Kirche habe ein weites Dach, aber man müsse auch sagen können, was nicht geht, wobei sie zum Beispiel an spirituellen Missbrauch denkt. «Deshalb will ich auch theologisch arbeiten und nicht nur Funktionärin sein.» Dabei sei sie einerseits froh um die gute Struktur, andererseits auf die organisatorische Kompetenz ihrer Ratskolleginnen und -kollegen und des Kirchenratsaktuars bauen zu können.

Unterstützend wirken
Was bleiben soll, ist der dezentrale Charakter der Kirche im Thurgau: «Wir wollen nicht bestimmend, sondern unterstützend wirken. Und als Präsidentin möchte ich zusammenführen, den Informationsfluss innerhalb der Kirche sicherstellen und das Netzwerk gegen aussen pflegen», wobei sie in der Öffentlichkeitsarbeit grosse Chancen sieht. Sie fühle sich verantwortlich und verfolge die Medienpräsenz der Gemeinden aufmerksamer als früher. Ihre Vernetzung dank ihres Engagements am Deutschen Evangelischen Kirchentag, der Ausbildungstätigkeit von Lehrpersonen an der PHTG und als Präsidentin der kantonalen Gesundheitskommission kommt ihr dabei entgegen. Gespannt ist sie überdies auf die bereits institutionalisierten Visitationen und Gottesdienstbesuche bei den Gemeinden.

Fähigkeiten wertschätzen
Die Gratwanderung, sowohl kirchenengagierte als auch -distanzierte Menschen anzusprechen, sei ihr durchaus bewusst. Ein befreundeter Verantwortlicher einer Trendkirche habe ihr nahegelegt, Menschen zunächst in der Kirche schnuppern zu lassen. Wenn dann die attraktive Beziehungs- und Erlebnisqualität zum Tragen komme, könne das hilfreich sein, wenn freiwillige Mitarbeitende gesucht werden. «Es geht darum, den Menschen Wertschätzung zu zeigen und sie nicht einfach für einen Job anzufragen.» Und man dürfe vielleicht schon nach zwei, drei Kontakten den Versuch wagen, ein Engagement beliebt zu machen. «Aber wenn wir die Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten schätzen, finden wir viel eher Leute mit Herzblut, als wenn wir einfach Jobs besetzen möchten.» Deshalb sei es unerlässlich, im Alltag Kontakte zu pflegen und sich für Menschen zu interessieren.

Auch in zehn Jahren noch Kirche
Zuversichtlich sagt Christina Aus der Au deshalb mit Blick in die Zukunft: «Die Institution Kirche ist auch in zehn Jahren noch Kirche – bestimmt anders als heute, aber Kirche!» Zielgruppenorientierte Arbeit sei wichtig, aber es brauche auch einen – allenfalls neu konzipierten – Ort, wo alle Zielgruppen zusammenkommen. «Die Kirche wird immer noch ein Gefäss sein, wo sich Menschen eng verbunden fühlen und verbindlich mitarbeiten – zusammen mit ausgebildeten Pfarrpersonen. Aber auch ein Gefäss, in dem viele neue Formen möglich sein werden.»

Lesen Sie hier das Interview mit dem abtretenden Kirchenratspräsidenten Wilfried Bührer.

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