Kirchenrätin Anita Vögtlin: «Wir fangen jeden Tag neu an»

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04.01.2023
Ende November wählte die Synode Anita Vögtlin in den Basler Kirchenrat. Die neue Kirchenrätin hat Sozialpädagogik studiert und arbeitet aktuell als Sozialdiakonin.

Ihr Engagement ist eindrücklich. So eindrücklich, dass man sich fast ein wenig schämt ob des eigenen (Nichts-)Tuns für die Gesellschaft. «Mein Mann und ich wollten schon immer ein offenes Haus haben für Kinder, denen das Leben nicht alles in die Wiege gelegt hat», sagt Anita Vögtlin im Gespräch. Seit 29 Jahren ist sie mit ihrem Mann Matthias verheiratet. Genauso lange nimmt das Ehepaar Vögtlin Pflege- und Time-out-Kinder bei sich auf. Die Aufenthaltsdauer der Kinder schwankt zwischen einer und zwei Wochen und einem und sechs Jahren.

Die soziale Vögtlin-DNA
Das soziale Engagement scheint zentraler Bestandteil der vögtlinschen DNA zu sein. Matthias Vögtlin ist Heilpädagoge und Lehrer für Kinder mit einer Behinderung. «Für uns war immer klar, dass wir neben den eigenen auch weiteren Kindern ein Zuhause geben wollten. Als wir dann merkten, dass wir keine eigenen Kinder bekommen können, haben wir uns für die Adoption entschieden. Unseren Sohn haben wir als Baby adoptiert. Als er vier Jahre alt war, haben wir uns für ein weiteres Adoptivkind angemeldet und uns für Bolivien als Herkunftsland entschieden. Unsere Tochter kam im Kinderheim zur Welt, das wir Jahre zuvor auf einer Südamerika-Reise besucht hatten.» Dass es gerade dieses Kinderheim war, sei allerdings purer Zufall – allenfalls eine schöne Fügung.

Wärme bieten
Fünf Pflegekinder hat das Ehepaar Vögtlin über eine lange Zeit begleitet. «Bei diesen mittlerweile jungen Erwachsenen fühlen wir uns als Eltern», sagt Anita Vögtlin, «auch wenn das juristisch nicht zutrifft». Auf die Frage nach der Motivation für ihr altruistisches Handeln antwortet Vögtlin: «Ein Stück weit sind wir geführt. Wir machen einfach und fangen jeden Tag neu an.» Es sei in gewisser Weise eine Berufung. Anfragen für die Aufnahme von Pflegekindern würden sie mittlerweile nur noch erhalten, wenn sie ihre Bereitschaft gegenüber den Behörden explizit kundtun. «Früher hatten wir fast täglich Anfragen für eine kurzzeitige Unterbringung. Da wurde es manchmal zu viel, und wir mussten einen Weg finden, um uns vor Überlastung zu schützen.»

Vor zwei Jahren haben die Vögtlins einen Citroën-Bus selbst ausgebaut. Mit diesem fahren sie manchmal übers Wochenende weg. «Zwanzig Minuten Richtung Frankreich reichen völlig, um wieder etwas Abstand von der Situation zu Hause zu gewinnen und die Batterien aufzuladen.»

Zentrum Stephanus
Aufgewachsen ist Anita Vögtlin mit zwei Geschwistern in Therwil und Aesch. Eines davon haben ihre Eltern aus Brasilien adoptiert. Der Einsatz für die Belange anderer scheint ein Stück weit genetisch bedingt. Neben ihrem privaten Engagement für Kinder in schwierigen Situationen arbeitet Vögtlin seit Anfang 2017 als fest angestellte Sozialdiakonin in einem 50-Prozent-Pensum für die Kirchgemeinde Basel-West. Ein halbes Jahr zuvor hatte sie dort eine Schwangerschaftsvertretung übernommen.

Das kirchliche Zentrum im Stadtteil Neubad besteht seit 1952. Den Namen Stephanus erhielt das Haus vom Motiv des ersten Märtyrers der Christenheit, das sich auf dem Südfenster der nahen Pauluskirche findet. Das Engagement im «Stephanus» für die Quartierbewohner ist gross. «Niemand arbeitet hier nur im Rahmen der Stellenprozente. Sehr vieles wird ehrenamtlich geleistet. Beispielsweise nehmen viele junge Erwachsene für die Kinderlager extra Ferien und bezahlen zudem den Lagerbeitrag aus der eigenen Tasche.

«Dieses grosse Engagement verdient Beachtung», erzählt Anita Vögtlin. Sie selbst macht um ihr eigenes Engagement kein Aufheben. Ihre Bescheidenheit und der Umstand, dass sie ihr Engagement nicht an die grosse Glocke hängt, machen einen verlegen. Nicht nur sie als Person – alles im Kirchgemeindehaus Stephanus ist bescheiden. Dafür umso tatkräftiger. Kirche im besten franziskanischen Sinne.

Schwierige Umbruchphase
Der Basler Kirchenrat werde von ihrem Wissen als Sozialdiakonin profitieren, sagt Anita Vögtlin. Sie kenne die Sorgen und Nöte der Menschen: «Ich bekomme wirklich mit, was die Gemeinde an der Basis bewegt.» Im Arbeitsfeld der Diakonie erlebe sie sich zuweilen in der Rolle der umsorgenden Mutter. Kein Wunder, werde sie manchmal spasseshalber als Mama der Quartiergemeinde bezeichnet.

Als Kirchenrätin wird sie künftig in einer herausfordernden Umbruchphase bei der Beantwortung strategischer Fragen mitarbeiten. «Ich bin bereit, viel zu lernen und alles zu geben – im Wissen, dass Gott mich begleitet, was immer ich mache.» Dass nun jemand auch Themen aus der Diakoniepraxis in den Kirchenrat einbringe, könne sicher nicht schaden.

Toni Schürmann

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