Noch einmal die Kellys sehen

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11.01.2023
Der Verein Wunschambulanz erfüllt den Herzenswunsch von Brigitte aus Schaffhausen: das Weihnachtskonzert der Kelly Family im Zürcher Hallenstadion mitzuerleben. Der Kirchenbote ist mitgefahren.

Der Wintertag ist kalt und klar. Wir sind mit zwei Fahrzeugen des Vereins Wunschambulanz in Schaffhausen unterwegs, um den Fahrgast des heutigen Tages abzuholen. Der Verein erfüllt Menschen, die unheilbar krank sind, letzte Herzenswünsche. Heute soll der sehnliche Wunsch von Brigitte, noch einmal die Kelly Family live zu erleben, in Erfüllung gehen.

Wir biegen kurz vor drei Uhr in die schmale Quartierstrasse ein, in der die 61-Jährige lebt. Der Ambulanzwagen hält direkt vor der Haustür. Das Begleitfahrzeug, in dem ich mit weiteren Medienvertreterinnen mitfahre, parkt etwas abseits. Unsere Fahrerin Natasa Stojanovic und ihre Kollegin Gorica Markovic steigen aus und stossen zu Petar Sabovic und Sabine Millius, die den Ambulanzwagen für den Fahrgast vorbereiten.

Professionelle medizinische Fachkräfte
Das Viererteam verschwindet im Haus, um Brigitte abzuholen. Auf der Fahrt nach Zürich fährt die Ambulanz unmittelbar vor uns. «Falls sich die Klientin plötzlich schlecht fühlt, können wir sofort reagieren», erklärt Natasa Stojanovic. Gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Petar Sabovic hat sie vor fünf Jahren den Verein Wunschambulanz gegründet, der mit Hilfe von Spenden in der ganzen Schweiz tätig ist und 400 ehrenamtliche Mitglieder zählt. Sie alle sind professionelle medizinische Fachkräfte wie Transport- und Rettungssanitäter, Pflegefachkräfte, Palliative-Care-Spezialisten.

«Die Menschen, die sich für einen Wunsch entscheiden, wissen genau, was ihr Ziel ist. Wir sind nur Begleitpersonen, die sie unterstützen. Das Wichtigste ist, dass wir als Team Vertrauen schaffen können», erklärt Gorica Markovic. Die langjährige Pflegerin ist seit den Anfängen dabei. Das Sterben gehört zu ihrem Berufsalltag. Wir fragen sie, wie sie damit klarkomme. «Mit Liebe, Empathie und Wohlwollen», antwortet sie, ohne zu zögern. Die Stationsleiterin einer Demenzklinik hat schon oft erlebt, dass Patienten vor der Erfüllung des letzten Wunsches gestorben sind. «Umso glücklicher sind wir, dass Brigitte heute hier ist», sagt sie.

Ein Logenplatz für Brigitte
Die Fahrt führt zum Zürcher Hallenstadion, das wir kurz vor vier Uhr erreichen. Wir steigen aus und beobachten, wie eine Frau mit buntem Kopftuch auf der Rollbahre aus der Ambulanz gefahren wird. Sie hält sich schützend einen kleinen Teddybären vor das Gesicht. Eine weitere Dame begleitet sie. Wir erfahren, dass sie es war, die Brigittes Wunsch an den Verein herangetragen hat. Heute ist Silvia dabei, um das Konzert mit ihrer Freundin zu besuchen.

Im Eingangsbereich des Hallenstadions wartet die Managerin auf uns. Im zweiten Stock sei eine VIP-Loge für uns bereit. Wir Medienfrauen nehmen die Treppe, während Petar und Sabine Brigitte auf ihrer Rollbahre im Aufzug hochfahren. Die Loge liegt auf einem Flur, dessen Wände mit Porträts von Weltstars gepflastert sind, die hier gastiert haben. Während wir unter den Augen von Udo Jürgens, Kylie Minogue und Whitney Houston die richtige Tür suchen, dröhnt der Soundcheck durchs Stadion.

Petar und Sabine bringen Brigitte in die Loge, Silvia, Natasa und Gorica folgen. Auch wir treten ein, und in dem kleinen Raum wird es eng. Eine Glastür führt auf einen Balkon, der von hoch oben einen weiten Blick ins Stadion und auf die Bühne bietet.

Seit 30 Jahren ein Fan
Wir fragen Brigitte, ob sie nervös sei. «Ja, natürlich bin ich aufgeregt, ich stehe sonst nicht so sehr im Mittelpunkt.» Von der Wunschambulanz habe sie nach ihrer schweren Krebsdiagnose im letzten Februar erfahren. «Eine Pflegefachfrau im Spital gab mir noch ein halbes Jahr zu leben. Sie erzählte mir wohl deshalb davon.» Brigitte blickt uns direkt in die Augen und sagt: «Aber ich bin noch da.» Sie sei eine Frau, die nach vorn blicke. «Mich in eine Ecke zu verkriechen und zu heulen, bringt nichts. Ich kann nur versuchen, mit der Krankheit zu leben.» Kraft dazu findet sie in der Ehe und im Freundeskreis. «Mein Mann und meine Freundin Silvia sind für mich da.»

Und nicht zuletzt in der Musik. Vor dreissig Jahren hat sie die Kelly Family zum ersten Mal gehört und gewusst, das ist ihre Musik. Ihre Lieblinge sind Kathy und John Kelly. «Die beiden haben ihre Geschwister nach dem Tod der Mutter grossgezogen, obwohl sie selber noch jung waren, das hat mich beeindruckt.» Brigitte hat die Kelly Family schon oft live gehört, aber in den letzten drei Jahren war das nicht mehr möglich. «Mein Mann war lange Zeit sehr krank. Darin scheinen wir uns abzuwechseln. Aber hey, ich gebe nicht auf!»

Inzwischen riecht es auf dem Flur nach Essen. Der Cateringservice bedient die Logen mit Brötchen mit heissem Fleischkäse. «Das klingt gut!», sagt Brigitte und greift zu.

Den Moment unbeschwert geniessen
Sabine Millius ist heute für die medizinische Betreuung der Klientin verantwortlich. «Ich habe mich im Vorfeld nach ihren Beschwerden und ihren Medikamenten erkundigt und mit ihren Ärzten gesprochen, um mir ein Bild zu machen.» Die Pflegefachfrau weiss aus ihrer täglichen Arbeit im Palliativbereich, wie wichtig letzte Wünsche sind. «Die Fahrgäste sollen diese besonderen Momente unbeschwert geniessen.»

Marianne Arpagaus erlebt heute ihren ersten Einsatz als Teammitglied. «Vor einem halben Jahr hatte meine Mutter einen letzten Wunsch: Sie wollte den Wind auf der Haut spüren und sich noch einmal lebendig fühlen.» Die Reise im Ambulanzwagen führte auf den Flüelapass. «Mitzuerleben, wie meine Mutter alle Sorgen für den Moment loslassen konnte, hat uns noch stärker verbunden.» Sie fühle seither eine grosse Ehrfurcht vor dem Leben.

Das Lieblingslied wird angestimmt
Inzwischen wird es in der Loge unruhig. Das Konzert startet in wenigen Augenblicken. Brigitte überreicht Petar Sabovic selbst gebackene Weihnachtsguetzli. «Als kleiner Dank für etwas Grosses», sagt sie verlegen. Er lacht und meint: «Das nehmen wir gerne an, nur Geld nehmen wir von unseren Fahrgästen keines.» Brigitte verfolgt das Konzert nicht draussen auf dem Balkon, sondern auf dem sicheren Boden der Loge vor der geöffneten Glastür. «Ich bin nicht schwindelfrei.»

Unten auf der Bühne beginnt ein Feuerwerk aus Bühnenlichtern, und die Kelly Family rockt «Merry Christmas». Brigitte klatscht mit und lächelt. Später greift John Kelly zum Mikrofon und kündigt das spanische Lied «El camino» an. Es erzählt von Frauen und Männern, die nicht aufgeben, sondern ihren Weg weitergehen. Die Menge unter uns jubelt dem Künstler zu. Brigitte schliesst die Augen und geniesst still ihr Lieblingslied.

Brigittes weiterer Wunsch: ein paar Jahre mit ihrem Mann
Nach zwei Stunden ist das Konzert zu Ende, wir machen uns für die Rückfahrt bereit. Brigitte wirkt überwältigt: «Das Konzert war grandios.» Sie brauche Zeit, um all die Eindrücke zu verarbeiten. Wir verlassen den zweiten Stock und verweilen vor dem Stand mit den Fanartikeln im Foyer. Vereinspräsident Petar Sabovic ist zufrieden mit dem Abend. «Alles hat gut geklappt. Nur das Treffen mit den Künstlern kommt leider nicht zustande, weil sie erkältet sind.» Brigitte wirkt trotzdem glücklich. Und verrät uns ihren weiteren grossen Herzenswunsch: «Ich möchte noch ein paar Jahre mit meinem Mann zusammen verbringen dürfen.»

Wir verabschieden uns vor dem Hallenstadion von Brigitte und steigen ins Begleitfahrzeug. Während der Fahrt zurück nach Schaffhausen leuchten vor uns die roten Lichter des Ambulanzwagens, der Brigitte sicher nach Hause bringt.

 

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