Die ersten 100 Tage - Interview mit Kirchenratspräsident Sebastian Doll

min
22.02.2022
Pfarrer Sebastian Doll ist seit November 2021 als Glarner Kirchenratspräsident im Amt. Über seinen Start, die Kirche im Glarnerland und etwaige Kulturschocks sprach er mit Tilmann Zuber vom Interkantonalen Kirchenboten.

Sebastian Doll, Sie haben die ersten hundert Tage als Kirchenratspräsident hinter sich. Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt.

Ja, bis jetzt schon. Es gibt Themen, die den Start etwas erschwert haben, aber das Positive überwiegt. 

Was meinen Sie?

Man trifft beispielsweise Menschen in den Gremien, die man kennt und mit denen man konstruktiv arbeiten kann. Ich war ja zuvor Vizepräsident im Kirchenrat und engagierte mich auf der nationalen Ebene der reformierten Kirche.

Was haben Sie sich für ihr neues Amt vorgenommen?

Die Kirche im Glarnerland zu einigen, das Denken im eigenen Gärtchen zu überwinden und da und dort eine Türe aufzustossen. Mein Motto lautet «gemeinsam statt einsam». Es wird immer schwieriger, Leute für die Kirchenräte und für das freiwillige und ehrenamtliche Engagement zu finden. Ich denke, es ist wichtig, dass sich die Kirche zukunftsfähig aufstellt. Und unsere Liegenschaften werden zum grossen Thema.

Inwiefern?

Die Anzahl der Reformierten im Kanton nimmt ab, während wir für meinen Geschmack sehr hohe Kosten bei den Liegenschaften haben. Natürlich müssen wir unsere Gebäude unterhalten. Trotzdem frage ich mich, in was investieren wir, in Menschen oder Liegenschaften? Als Kirche haben wir einen Auftrag und müssen den Menschen mit einer offenen, einladenden und gastlichen Haltung entgegentreten. Dafür braucht es einen Paradigma-Wechsel: Es geht nicht darum, am Sonntag die Kirche zu füllen, sondern dass die Kirche zu den verschiedensten Menschen einen Zugang findet. Das schaffen wir nur gemeinsam.

Sie haben die kleiner werdende Kirche angesprochen. Im Vergleich zu anderen Kantonalkirchen kommen die Glarner bei den Kirchenaustritten mit einem blauen Auge davon. Was machen Sie besser?

Ich glaube nicht, dass wir etwas besser machen. Der Kanton Glarus ist eher klein und landwirtschaftlich. Die Kirche ist traditionell verwurzelt. Deshalb sind die Kasualien, etwa die Abdankungen gut besucht, und die Taufen nehmen zu. Bei den Taufgesprächen erklären mir die Eltern oft, sie liessen ihre Kinder taufen, da dies zu ihrem Leben gehöre.

Findet hier Kirche anders als im städtischen Umfeld statt?

Die Kirche ist hier anders verwurzelt. Sie gehört zur Tradition und man ist eher mit den Pfarrpersonen und den Ehrenamtlichen verbunden. Man kennt sich und trifft sich auf der Strasse. Die Kirche ist hier noch im Dorf. Aber natürlich kämpfen wir mit den Austritten, gerade wenn die Steuern kommen.

Vor einem halben Jahr hat die Landsgemeinde die Abschaffung der juristischen Kirchensteuer deutlich verworfen.

Ja, es ist wunderbar, dass diese Abstimmung so deutlich ausfiel. Wir wollen, wie angekündigt, diese Gelder für soziale Institutionen und gesellschaftliche Belange einsetzen.

Zur Zukunft der Kirche: Wie sieht diese im Kanton Glarus in dreissig Jahren aus?

Die Kirche wird wesentlich kleiner sein, mit weniger Liegenschaften, von denen einige eine neue Nutzung haben, und es wird vermutlich nur noch eine Kirchgemeinde im ganzen Kanton geben. Und die Kirchen werden ökumenischer. Die kommenden Generationen werden weniger in der eigenen Konfession verhaftet und mobiler sein. Schon heute spielt es für viele keine Rolle, ob hinter den Angeboten die reformierte oder katholische Kirche steht. Ich bin aber überzeugt, dass die Kirche weiterhin hier verwurzelt ist, vermutlich in einer anderen Form. Das Bedürfnis nach Glauben und Kirche wird weiter bestehen.

Sie klingen optimistisch.

Wir wissen ja nicht, wie die Gesellschaft in dreissig Jahren aussieht. Vielleicht spielen die Kirchen eine andere Rolle als heute, auch im Positiven.

Auch wenn die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche abnimmt, so haben viele nach wie vor grosse Erwartungen an die Kirche.

Ja, wenn etwas geschieht, ruft man nach der Kirche. Ich hatte viele Abdankungen von Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind. Als Seelsorger weiss ich, wie wichtig dies für ihre Angehörigen ist.

Sie sind Pfarrer in Glarus. Wie erlebten Sie als Seelsorger die Pandemie?

Im ersten Lockdown hatten wir zunächst die älteren Menschen im Blick. Doch er traf sie weniger, da viele eh schon alleine lebten und wussten, wie sie mit der Situation umgehen konnten. Hingegen ging es den jungen Familien, bei denen die Eltern im Home-Office arbeiteten und die Kinder zu Hause vor dem Bildschirm unterrichtet wurden, schlecht. Das hat sich gedreht: heute sind es die älteren Leute, die Zuwendung brauchen. Ihnen fehlen ihre Treffpunkte wie etwa der Seniorenkreis. Ich habe das Gefühl, durch die Pandemie ist der Kontakt zwischen der Kirche und der Bevölkerung stellenweise enger geworden. Die Leute schätzen es, wenn wir uns bei ihnen melden und ihnen kleine Aufmerksamkeiten zukommen lassen.

Zu einem anderen Thema: Sie stammen aus Wuppertal in Deutschland. War es für Sie und Ihre Familie ein Kulturschock, als Sie im Glarnerland landeten?

Nein. Als wir das erste Mal im Glarnerland waren, fuhren wir ins Klöntal und dachten «Wow.». Die Berge erinnerten uns an Skandinavien, das wir oft bereist hatten: Unten Wasser und oben die Berge. Auch die ersten Begegnungen mit den Hiesigen zeigten uns: wir scheinen zusammenzupassen. 

Hat Sie das enge Tal nicht eingeschüchtert?

Nein, viele warnten uns – wie kann man in einem so engen Tal leben, ohne dass einen die Berge bedrücken? Man muss ab und zu hochsteigen und die Gegend von oben betrachten. Das befreit. Wir können die Vorurteile über die Glarner im engen Tal mit engem Denken absolut nicht bestätigen. Man hat uns hier offen und herzlich empfangen. Man muss sich auf die Menschen und ihre Kultur einlassen, dann öffnet sich eine neue Welt.

Inwiefern?

Beispielsweise Jodeln. Wir kannten dies lediglich von Marianne und Michael aus dem deutschen Fernsehen. Hier jedoch lernten wir Jodeln als Teil der Kultur schätzen und lieben, da es authentisch ist. Hier wird Jodeln, Alphornblasen und vieles mehr gelebt und nicht für die Touristen aufgeführt. 

Wollen Sie jetzt Jodeln lernen?

Nein, ich bin völlig unmusikalisch. Man hat mich zwar angefragt, aber ich will dies niemandem zumuten.

Zum Schluss: Warum lohnt es sich, einen Gottesdienst zu besuchen?

Um einmal Pause vom Alltag zu machen, neue Inputs und Anregungen zu erhalten, gute Orgelmusik zu hören, vielleicht seine Sorgen im Gebet auszusprechen und sich für die kommende Woche zu stärken.