Als Gott in den Himmel zügelte
Gott hatte einst im Tempel seine Heimat. Die Babylonier zerstören ihn – und Gott braucht ein neues Daheim.
Jesaja lebt im späten 8. Jahrhundert. vor Christus. Er sieht und hört mehr, als andere sehen und hören. Darum ist er ein «Prophet». Im 6. Kapitel des Jesajabuches sieht er Gott im Tempel «auf einem Thron sitzen». Allerdings ist es nur der unterste Saum seines Gewandes. Dieser füllt aber den ganzen Tempel in Jerusalem aus: ein Zipfel Gott. Gott selber, so die Vorstellung, türmt sich weit über den Tempel hinaus bis in den Himmel. Es ist die wohl eindrücklichste Beschreibung in der Hebräischen Bibel, wie der Tempel in Jerusalem «Gottes Wohnstatt» ist. Jesaja sieht, wie «Türzapfen erzittern» und der ganze Raum voller Rauch ist.
Neben dem Tempel gab es auch lokale Heiligtümer im Land. Die Menschen knüpften den Kontakt zur Gottheit mit Opfern, Gaben und Gebeten. Diese Orte heissen in der Bibel beispielsweise Bet-El, Dan und Sichem.
Der Himmel kann Gott nicht fassen
Dann aber geschieht 587 vor Christus die erste grosse Zäsur in der Geschichte des Judentums. Die Babylonier zerstören Jerusalem, den Tempel und damit auch die «Wohnstatt Gottes». Sie deportieren ganze Bevölkerungsteile aus Juda nach Babylon. Diese kommen ins Exil und erleben so eine extreme Form des Verlustes von Heimat. Das hat auch Folgen für Gottes «Zuhause». Der Tempel als Ort irdischer Präsenz Gottes fällt weg: Gott thront nun im Himmel.Exemplarisch ist das im 1. Buch der Könige in Kapitel 8 zu lesen: Mehrfach ist darin vom «Himmel» die Rede, der «Stätte deines Thronens».
Ist Gott im Himmel, so kann er auch Gebete erhören, wenn der Tempel in Trümmern liegt.
Was ist der Sinn dieser Bewegung? Konrad Schmid, Professor für Altes Testament, schreibt: «Die königliche Macht Gottes ist nicht mehr geografisch auf Jerusalem konzentriert, sondern ist himmlisch vermittelt und entsprechend universal zu begreifen.» Anders gesagt: Ist Gott im Himmel, kann er auch Gebete erhören, wenn der Tempel in Trümmern liegt. Zudem erzählt derselbe Text, dass Gott noch «mehr als der Himmel» ist. «Sieh, der Himmel, der höchste Himmel kann dich nicht fassen.»
Zwang zur «Multilokalität»
In der Bibel gibt es in der Folge verschiedene Konzepte, wie und wo Gott im Himmel wohnt. Wenn aber Gott weit weg ist, bedeutet das auch Verlust von Nähe. Engel als Zwischenwesen überbrücken diesen Abstand. Das Christentum schliesslich geht dann einen eigenen Weg: Gott «wohnt» mit der Inkarnation im Gottmenschen Jesus Christus.
Die «Wohnstatt Gottes» ist also ausgesprochen mobil. Kann man aus dieser flexiblen «Heimat Gottes» etwas für die Heimatsuche der Menschen schliessen? Albrecht Grözinger ist emeritierter Professor für Praktische Theologie. Das Thema «Gott, Mensch, Heimat» beschäftigt ihn schon lange, zumal wir in Zeiten der Migration leben. Er sagt: «Die globalisierte Welt zwingt die Menschen geradezu, multilokal zu leben.» Wir müssen uns immer an verschiedenen Orten zurechtfinden, uns «Heimat schaffen».
Heimat muss man sich erarbeiten
Heimat ist also nicht einfach «da». Heimat muss man sich «erarbeiten». Das ist auch eine Aufgabe der Seelsorge. «Der Beitrag der Seelsorge in der globalisierten Welt ist, Menschen fähig zu machen, die Ambivalenz der vielen Zuhause auszuhalten», sagt Grözinger. Dabei gebe es Parallelen zum biblischen Gott und zu biblischen Personen. «Wie die Menschen jetzt kennen sie ebenfalls verschiedene Zuhause und machen ‹Migrationserfahrungen›.»
Text: Daniel Klingenberg, Pfarrer, Mittleres Toggenburg | Foto: Andreas Ackermann – Kirchenbote SG, Juli-August 2020.
Als Gott in den Himmel zügelte