"WortSchatz" - Publikation zum 500-jährigen Jubiläum

Appenzeller Kircheninschriften neu gelesen

von Irina Bossart, Präsidentin Projektkommission
min
01.04.2024
Im «WortSchatz», dem Publikationsprojekt der Landeskirche zum 500-jährigen Reformationsjubiläum, deuten dreissig Autorinnen die Kircheninschriften neu.

In allen reformierten Kirchen des Appenzellerlandes gibt es biblische Inschriften. Sie zeigen sich über Portalen, auf Ecksteinen, an Innenwänden, auf Abendmahlstischen, an Kanzeln oder auf Glocken. Bis heute wirken die Bibelverse als stille oder klingende Kundgabe des Glaubens, sind Identitätsmarker, Zierde und Sinnspruch in einem. Zusammen bilden sie eine Art Kompendium zentraler christlicher Glaubensinhalte aus evangelisch-reformierter Perspektive. Gleichzeitig stellen die Sprüche einen kulturellen Wortschatz dar, dessen Inhalt das Selbstverständnis, die Lebensführung und den Hoffnungshorizont der Appenzellerinnen und Appenzeller über Jahrhunderte tief geprägt hat.

 

Vielstimmigkeit oder: 30 Autorinnen und Autoren

Aus Anlass des Reformationsjubiläums ist eine Publikation in Vorbereitung, welche die biblischen Inschriften der reformierten Appenzeller Kirchen ins Licht rückt. Dreissig verschiedene Autorinnen und Autoren deuten die Bibelverse neu. Die Vielzahl der Schreibenden ist eine Referenz an die Vielstimmigkeit der evangelisch-reformierten Kirche. Die gemeinsame Basis bildet die Heilige Schrift. Entsprechend folgen die Textbeiträge auch dem reformatorische Schriftprinzip, dem Grundsatz, dass die Bibel das grundlegende Zeugnis und die Richtschnur für Glauben und Theologie darstellt.

Diesem Schriftprinzip hatte die Landsgemeinde im Frühjahr 1524 zugestimmt und damit das Tor zur Erneuerung der Kirche im damals noch ungeteilten Land aufgestossen. Die Vernissage dieser Publikation findet am 3. November um 17 Uhr in Trogen statt.

Die Landsgemeinde hat im Frühjahr 1524 dem Schriftprinzip zugestimmt und die Erneuerung der Kirche im damals noch ungeteilten Land ermöglicht.

Hintergrund der Idee

Inspiration zur Idee, die biblischen Inschriften ins Zentrum zu rücken, waren die Inschriften an der Empore der Steiner Kirche. Ich machte sie vor rund sieben Jahren zum Thema meiner Bewerbungspredigt. Je länger ich seither über ihren Inhalt und ihre Zusammenstellung nachdenke, desto trefflicher finde ich die Auswahl. Gemeinsam bilden sie nämlich ein prägnantes Kirchenprogramm. Wer sie ausgesucht hat und nach welchen Kriterien, habe ich bis jetzt nicht herausgefunden. Sie kamen 1903 im Zuge der Innenrenovation an ihren heutigen Ort, gestaltet von Rudolf Grundlehner, der auch die Kirchen von Hundwil und einst von Bühler ausgemalt hat.

Ohne Licht tappen wir im Dunkeln; ohne (innere) Ausrichtung drehen wir uns im Kreis. Dieser Text von Psalm 119 wurde abgeändert. In der Bibel heisst es, meines Fusses’. | Quelle: Irina Bossart

Ohne Licht tappen wir im Dunkeln; ohne (innere) Ausrichtung drehen wir uns im Kreis. Dieser Text von Psalm 119 wurde abgeändert. In der Bibel heisst es, meines Fusses’. | Quelle: Irina Bossart

Die Bibelsprüche in Stein – ein Kirchenprogramm

Beginnen wir – in der Leserichtung – links aussen: Der Vers stammt aus dem ersten Johannesbrief; das Schriftband gibt allerdings nur den Anfang des Satzes wieder. In etwas altertümlichem Deutsch steht da: «Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget». In einer moderneren Übersetzung und vervollständigt lautet der Vers: «Seht, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es auch!» Im Vers wird eine grosse Zusage gemacht: Gottes Liebe ist bedingungslos und wir sind Gotteskinder. Die Erfahrung des Geliebt-Seins ist fundamental; ohne Zuwendung und Liebe kann sich menschliches Leben kaum entfalten. Aus solch existenzieller Anerkennung schöpfen wir Lebenslust und Lebensmut. Im zweiten Teil des Satzes bezeichnet der Autor die Adressat:innen des Briefes als ‚Gotteskinder’. Konkret bedeutet das: So wie Jesus Gottes Sohn ist, sind auch wir Töchter und Söhne Gottes! Gott ist unser gemeinsamer Ursprung; auch wir tragen Spuren von Gott in uns. Daran erinnert nicht zuletzt das «Unser Vater»-Gebet, das Jesus seinen Jünger:innen ans Herz legte. Da heisst es ja nicht «euer» Vater, sondern eben «unser» Vater. Weitergedacht bedeutet dies, dass wir untereinander geschwisterlich verbunden sind – als Gleichgestellte.

 

Ohne Licht tappen wir im Dunkeln

Betrachten wir den mittleren Vers: «Dein Wort ist unseres Fusses Leuchte.» Der Satz ist Teil von Psalm 119, dem längsten von allen 150 Psalmen. Wer alle 176 Verse liest, vernimmt ein grosses Loblied auf die gute (Weg)Weisung Gottes, auf die Torah. Gottes Worte sind für den Psalmbeter wie eine Lampe. Sie ermöglichen ihm, sich in der Welt und im Leben zu orientieren und einen Weg zu finden, der Wohlergehen und Frieden verheisst. Ohne Licht tappen wir im Dunkeln; ohne (innere) Ausrichtung drehen wir uns im Kreis – wir verirren uns, gehen verloren oder stossen zusammen.

Der Vers auf der rechten Seite der Empore lautet: «Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.» Dieses Bildwort bringt zum Ausdruck, dass Wachstum und Gedeihen ohne Nährstoff-Quelle und Verbundenheit nicht möglich sind. Der Begriff Religion leitet sich vom lateinischen Wort «religio» ab und kann mit Rückbindung oder Anbindung übersetzt werden. Für Christ:innen ist der Ort der Anbindung Jesus Christus. Wir können in unserem Glauben nur wachsen und reifen, wenn wir die Verbindung mit Christus nicht verlieren, wenn wir an ihn rückgebunden bleiben.

Der vierte und letzte Bibelvers auf einem Medaillon unterhalb der Mitte, stammt aus dem ersten Petrusbrief: «Als lebendige Steine bauet euch zum geistlichen Haus durch Jesus Christus.» Der Auftrag, ein «lebendiger Stein» der christlichen Gemeinde zu sein, bekommt seine Gestalt und Zielrichtung durch die anderen drei Vers-Inhalte: Erst die Identität als geliebte und gleichgestellte Gotteskinder, die Ausrichtung an Gottes Wort und die Verbindung zu Jesus Christus ermöglichen eine Kirche, die vertrauensvoll und mitmenschlich den Weg in die offene Zukunft unter die Füsse nimmt. Eine solche Kirche ist ein Ort, wo das Gestalt gewinnt, was Jesus initiiert hat, wozu er uns beauftragt hat, wodurch er wirkt und wo er gegenwärtig ist: Der Anbruch des Reiches Gottes, Lebensraum in Gottes Schalom.

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