Auch reformierte Kirchen sind mehr als totes Gemäuer

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25.03.2021
Kirchgemeinden stehen vor der Frage, wie sie mit nicht mehr benötigten Kirchen umgehen sollen. Denn der Unterhalt der oft denkmalgeschützten Gebäude ist teuer.

Fährt man von Westen in den Bahnhof St. Gallen ein, so ist sie kaum zu übersehen: Die Kirche St. Leonhard, die links über den Geleisen thront. Ein zentrales Gotteshaus, das die Präsenz der Kirche in der Stadt markiert? Fehlanzeige. Denn die Leonhardskirche gehört nicht mehr der reformierten Kirche und steht leer. Seit siebzehn Jahren.

Die Kirche St. Leonhard war schweizweit eine der ersten, die an Private verkauft wurde. Wohl deswegen sei es nicht optimal gelaufen, vermutet Johannes Stückelberger. Der Kunsthistoriker von Universität Bern kennt die Fragen rund um Kirchenumnutzungen wie kein anderer in der Schweiz. «Die Kirche St. Leonhard verkaufte man in einem Verfahren, wie man es vom Einfamilienhaus kennt», analysiert er. «Man braucht es nicht mehr, also verkauft man es.» Doch Kirchen seien anders als Einfamilienhäuser: «Sie sind Orientierungspunkte im Stadtbild. Sie sind nicht nur für die Kirchgemeinde wichtig, sondern für die ganze Bevölkerung.» 

Sanierungen teuer

Der Anstoss zu einer Kirchenumnutzung ist oft finanzieller Natur. Die Unterhaltskosten sind hoch, Sanierungen teuer. Da stellt sich die Frage, was man mit der Liegenschaft überhaupt will. So auch in der Winterthurer Kirche Rosenberg: Das Dach war undicht, die Haustechnik veraltet, der Energieverbrauch immens. 80 000 Franken kostete der Unterhalt der leer stehenden Kirche jährlich – Geld, das in kirchliche oder soziale Projekte investiert werden könnte. Benötigt wurde die Kirche nicht, denn es gab im Quartier noch eine zweite reformierte Kirche. Da lag es nahe, vor der Sanierung mögliche Nutzungen zu diskutieren, und zwar «ergebnisoffen», wie die Kirchenpflege, die Zürcher Version der Kirchenvorsteherschaft, damals mitteilte.

 

«Es ist ein Unterschied, ob man eine Kirche verkauft oder ein Einfamilienhaus.»

 

Dieses Vorgehen sei richtig gewesen, findet Stückelberger. «Bei Kirchenumnutzungen sollte am Anfang noch nicht klar sein, wohin die Reise geht.» Zuerst müssten Partner und Interessengruppen eingebunden werden: die Kirchgemeinde, die Denkmalpflege, die politischen Behörden. «So hat man die Chance, Lösungen zu finden, die man zu Beginn gar nicht auf dem Radar hatte.»

Kulturkirche gescheitert

Schliesslich entschied sich die Kirchgemeinde, die Rosenberg-Kirche nach deutschen Vorbildern in eine Kulturkirche umzuwandeln. Das Konzept lag vor, doch das Vorhaben scheiterte im November 2015 an der Urne. «Offensichtlich ist es uns nicht gelungen, bei den Menschen das Feuer für unser Vorhaben zu entfachen», stellt Kirchenpflegepräsident Ueli Siegrist nüchtern fest. Stückelberger ergänzt: «Kulturkirchen haben den Ruf, abgehoben und elitär zu sein.» 

Heilig, aber nicht geweiht

Im Gegensatz zu katholischen Kirchen sind reformierte Kirchen nicht geweiht. Sind sie also bloss totes Gemäuer, von einem profanen Gebäude nicht zu unterscheiden? Stückelberger verneint. Dass Kirchen besondere Räume seien, zeige sich in ihrer Architektur: «Die Räume sind hoch, die Lichtverhältnisse ungewohnt, die Akustik hallend.» Deswegen verhalte man sich in einer Kirche automatisch anders als etwa in einer Turnhalle: «Man spricht leiser, man geht langsamer, man verfällt in eine andächtige Stimmung.»

 

«Meine Freundinnen luden mich nach Hause ein zum Spielen, und ich lud sie zu uns in die Kirche ein.»

 

Dazu komme das Wissen, dass in diesem Raum wichtige Übergangsriten stattgefunden hätten: Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Beerdigungen. Das führe dazu, dass man dem Gebäude Ehrfurcht entgegenbringe. «Ein reformierter Kirchenraum wird geheiligt durch die Versammlung der darin Gottesdienst Feiernden», sagt Stückelberger. Das zeige sich besonders, wenn gemeinsam das Unservater gebetet werde: «Viele sprechen das Gebet im Bewusstsein, Teil einer weltweiten Gemeinde zu sein.»

Geistesblitz in der Badewanne

In Winterthur stand man nach dem Nein zur Kulturkirche Rosenberg vor einem Scherbenhaufen. «Am Abend nach der Abstimmung setzte ich mich in die Badewanne und liess mir die Sache durch den Kopf gehen», erzählt Kirchenpflegepräsident Siegrist. Damals berichteten die Medien ständig über volle Flüchtlingsunterkünfte. «Noch am gleichen Abend schrieb ich der Stadt ein E-Mail mit dem Angebot, die Rosenberg-Kirche als Asylunterkunft zu nutzen.» Danach ging es schnell. In Rekordtempo wurden Holzhäuschen entworfen und vom Zivilschutz montiert, Baubewilligungen erteilt, Verträge unterzeichnet und Informationsveranstaltungen für die Bevölkerung durchgeführt. Zwei Monate nach dem Nein zur Kulturkirche zogen bereits die ersten Flüchtlingsfamilien ein. «Die Unterstützung in der Bevölkerung war gross», erinnert sich Ueli Siegrist. Freiwillige erteilten Deutschkurse, sangen und malten mit den Kindern, organisierten Ausflüge. Und Siegrist selbst überraschte die Bewohner im Dezember mit einem Besuch als Samichlaus. So entstanden Freundschaften, die Bestand hatten, als die Kirche nach zwei Jahren als Flüchtlingsunterkunft nicht mehr benötigt wurde. Noch heute nehmen ehemalige Asylsuchende der Rosenberg-Kirche an der Gemeindeferienwoche der Kirche teil.

 

«Es ist traurig, dass die Kirche leer steht, und nicht absehbar ist, wann hier etwas passieren wird»

 

Zum Beispiel Arazoo Hama und Chiya Salih. Die irakischen Kurden wohnten mit ihren drei Kindern ein Jahr lang in der Kirche Rosenberg. «Es war nicht einfach», erzählt Arazoo. Denn Toiletten und Duschen befanden sich in Containern vor der Kirche. «Wenn unsere kleinen Kinder im Winter in der Nacht auf die Toilette gingen, mussten sie nach draussen.» Schön sei aber gewesen, dass sie schnell Kontakte geknüpft hätten zur Bevölkerung. «Ich habe Freunde gefunden», erzählt Arez, die älteste Tochter. «Sie luden mich nach Hause ein zum Spielen, und ich lud sie zu uns in die Kirche ein.»

Kirche als flexible Masse

Nach zwei Jahren wurde die Rosenberg Kirche als Flüchtlingsunterkunft nicht mehr benötigt. Sie stand leer, bis im Januar 2021 ein Corona-Testzentrum eingerichtet wurde. Doch auch diese Nutzung ist temporär. Wie geht es langfristig weiter mit der Kirche? «Wir sind offen für neue Ideen», sagt Kirchenpflegepräsident Siegrist. Kunsthistoriker Stückelberger ergänzt: «Ich finde den Ansatz gut, dass man die Kirche temporär nutzt, als flexible Masse.» Bedarf nach solchen Räumen gebe es immer. «Wer weiss, vielleicht kristallisiert sich so eine dauerhafte Lösung heraus.»

Auch bei der Kirche St. Leonhard in St. Gallen ist unklar, wie es weitergeht. Gekauft hatte die Kirche der Winterthurer Architekt Giovanni Cerfeda, für 40 000 Franken. Er hatte ein Kultur- und Eventzentrum angekündigt. Doch daraus ist nichts geworden. Seine Umbaupläne wurden von der Denkmalpflege als nicht umsetzbar zurückgewiesen mit der Einladung, einen neuen Anlauf zu machen. Doch zu Änderungen an den Plänen war Cerfeda nicht bereit – er reichte einfach die gleichen Unterlagen nochmals ein. Kunsthistoriker Stückelberger bedauert das. «Es ist traurig, dass die Kirche leer steht, und nicht absehbar ist, wann hier etwas passieren wird», bilanziert er. Alle Anfragen des «Kirchenboten», wie es mit der St. Leohnhardskirche weitergehen soll, liess Cerfeda bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Text: Stefan Degen | Fotos: Markus Jedele / zVg / Wikimedia / zVg – Kirchenbote SG, April 2021

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