Beten – Gespräch mit Gott
Erbe von Judentum und Antike
Unsere christliche Praxis des Betens als Gespräch mit Gott wurzelt in der reichen Gebetstradition des Judentums und der griechischen und römischen Antike. Die Psalmen, ein Wunderwerk an Gebeten, sind Zeugen dafür, und der griechische Dramatiker Euripides formulierte: «Denn das Herz bedarf im Tanz der unerbittlich eisigen Welt des Betens.» Die Geschichte führt aber noch viel weiter zurück bis zu uralten Kulten in vorhistorischer Zeit. Das Gebet ist mit der Entwicklung der menschlichen Kulturgeschichte eng verwoben. Es schöpft aus den Tiefen unserer Existenz und dem Bedürfnis nach einem Umgang mit Freude und Mut, Trauer und Angst.
Viele Formen und Farben
Seit der Zeit Jesu wird im Christentum das Gespräch mit Gott intensiv und in vielen Formen und Farben gepflegt. Die alttestamentlichen Gebete, das Vaterunser oder auch das Magnificat Marias haben bis heute nichts an Ausstrahlung verloren, der Gebetsschatz wird aber immer wieder darüber hinaus erweitert und verändert. Es gibt viele Gebetsformen und Gebetsfarben, vom individuellen Stossgebet bis zu stark ritualisierten Kettengebeten wie dem Rosenkranz. Gottesdienste sind oft eine kunstvolle Abfolge allerhand verschiedener Gebetstypen, die ganz unterschiedlich vorgetragen werden: allein, gemeinsam, im Wechsel, still, laut, gesungen, unterstrichen und vertieft durch Gesten, Gerüche oder Lichter.
Grosser Einfluss auf unsere Kultur
Die jüdisch-christliche Gebetstradition ist nicht nur eine religiöse Angelegenheit. Sie hat insgesamt wesentlich zur europäischen Kultur beigetragen, auch in der Dichtung, der Musik und der bildenden Kunst. Selbst in unserer säkularisierten Welt widmen immer noch unzählige Frauen und Männer dem Beten viel Zeit. Und dem Beten mindestens ähnliche rituelle Formen werden auch im Sport, am Rockkonzert oder an der Börse gepflegt.
Gebetsskepsis
Die europäische Kultur ist allerdings auch eine Hochburg der Gebetsskepsis. Schon Jesus betonte gegen diese Skepsis wiederholt, dass Beten hilft. Und er war sich am Kreuz nach den Evangelisten Markus und Matthäus nicht sicher, ob Gott ihn verlassen hat. Religionskritische Philosophen von Diogenes bis Immanuel Kant und natürlich auch der philosophische Atheismus gehen hart mit dem Beten ins Gericht. Für Kant etwa war das Beten ein «vermessener Wahn». Trotzdem ist es nicht verschwunden.
Deutschsprachige Gebetbücher
Neben den biblischen Gebeten und den Psalmen, der Gebetstheorie und verschiedenen Gebetsformen stehen in der Ausstellung deutschsprachige Gebetbücher des Spätmittelalters im Zentrum. Dabei entdecken wir individuelle Zeugnisse des Glaubens. Weil viele dieser Gebetbücher von weiblichen Besitzerinnen stammen, sind sie interessante Zeugnisse für die Geschichte der Frauen. Sie zeigen ihre religiösen Vorlieben und geben darüber hinaus wertvolle Hinweise zum Bildungsstand der Frauen, etwa zu ihrer Schreib- und Lesekompetenz.
Fotografien betender Menschen
Während im Bibliothekssaal Zeugnisse des christlichen Betens gezeigt und eingeordnet werden, weitet sich der Blick im Flur der Bibliothek. Fotografien der österreichischen Künstlerin Katharina Heigl zeigen betende Frauen und Männer unterschiedlicher Religionen. Dabei zeigt sich frappant und berührend, wie ähnlich das Gebet in allen Kulturen gepflegt wird.
Die letzten Dinge
Beten ist oft Auseinandersetzung mit den letzten Dingen, mit unserer Existenz, unserem Gelingen und Versagen, Leben und Tod. Das ist über Jahrtausende konstant geblieben. Insofern passt diese Ausstellung in unsere Zeit, die von einer Pandemie erschüttert wird, die unsere Gesundheit und unsere Art zu leben in Frage stellt. In Zeiten der Not gewinnt das Gebet an Bedeutung.
www.stiftsbezirk.ch
Text und Bildmaterial: Stiftsbibliothek St. Gallen – Kirchenbote SG, 7. Dezember 2020
Beten – Gespräch mit Gott