Bist du noch da?
Es gibt tatsächlich auch heute noch Menschen, die telefonieren miteinander. Einfach das Handy in die Hand nehmen und eine Nummer eintippen. Und dann ans Ohr halten – nein, auch kein Videoanruf – und zuhören, wie es am anderen Ende «tüüt – tüüt» macht. Wenn man Glück hat, nimmt dort jemand ab. Und wenn man noch mehr Glück hat, dann ist dieser Jemand genau die Person, die man sprechen wollte.
Dann kann man miteinander reden, obwohl man sich nicht sieht. Eigentlich noch fast besser, als wenn man sich sieht. Mir geht es jedenfalls so. Ich kann mich oft besser konzentrieren, wenn ich nur die Stimme am anderen Ende höre. Nur manchmal, wenn das Gegenüber lange keinen Ton von sich gibt, dann muss ich nachfragen: «Bist du noch da?»
So geht es mir gerade mit Gott. Beten hat für mich etwas von Telefonieren. Gott anrufen – im wahrsten Sinne des Wortes. Mit ihm reden wollen, zuhören, alles andere ausblenden, den anderen nicht sehen, aber hören. Und seine Nähe spüren. Auch die alte amerikanische Vokalgruppe Manhattan Transfer singt in einem ihrer Songs davon, dass die Mutter immer ein Gespräch mit Jesus erhielt, wenn sie diese Nummer wählte: «Please give me Jesus on the line!»
Aber in diesen Zeiten bin ich etwas unsicher. Bist du noch da? Gott, bist du noch am Apparat, steht die Verbindung noch? Bilde ich mir nur ein, dass du da bist? Ich höre so gar nichts mehr, nicht einmal mehr das Atmen Gottes? Nicht einmal das Schluchzen Gottes – und das müsste er doch, wenn er da wäre, wenn er auch Zeitung liest, Nachrichten schaut und durch Social Media scrollt!
Bist du noch da, Gott? Ist da überhaupt jemand? War da irgendwann mal jemand? Dass es Böses gibt in der Welt, sei der Fels des Atheismus, hat einmal ein empfindsamer Mensch geschrieben. Darauf kann der Unglaube stehen. Der Unglaube an einen liebenden Gott in Zeiten des Krieges und des Terrors. Keiner da, Verbindung abgebrochen. Oder gar nie zustande gekommen. Wir haben mit uns selber telefoniert. Oder mit einem Chatbot, der seine Antworten aus den gesammelten Daten des Internets zusammen algorithmisiert.
Ist unser Gott am anderen Ende der Leitung ein selbstgebasteltes Konstrukt, das gerade unter der Last der schlimmen Ereignisse in der Welt zusammenbricht?
Vielleicht habe ich aber auch nur die falsche Nummer gewählt. Ich versuche es mal mit Hiob oder einem Psalmdichter, Psalm 13 zum Beispiel: «Wie lange verbirgst du dein Angesicht vor mir?» oder Psalm 22, «Warum hast du mich verlassen?», oder noch radikaler, Psalm 88, der bis zum Schluss die erlösende Wendung zum Guten verweigert.
Die hatten offenbar jemanden am Apparat – der hat zwar auch nicht geantwortet, aber da ist jemand, welcher den wilden Klagen zuhört. Nur deswegen ist dieses Klagen sinnvoll, diese gehen nicht ins Leere, die Psalmdichter beklagen nicht wie Atheisten die Abwesenheit eines Er oder einer Sie da draussen, sondern sie fordern die Zuwendung des Du hier und jetzt! Das macht es nicht einfacher – im Gegenteil. Davon ausgehen, dass am anderen Ende immer noch jemand ist, der zwar schweigt, aber dennoch da ist. Da ist und da bleibt.
Ich nehme also den Hörer nochmals auf und schreie hinein: Gott, wo bist du? Warum antwortest du nicht? Und ich klammere mich an dieses Du wie Jakob am Jabbok. Ich lasse dich nicht gehen, bevor du mich – und die Welt! – nicht gesegnet hast.
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Christina Aus der Au
Die 56-Jährige ist Theologin und Kirchenratspräsidentin der Evangelischen Landeskirche Thurgau. Sie gehört dem Vorstand des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentags an und war Präsidentin der 36. Auflage in Berlin und Witterberg im Jahr 2017.
Bist du noch da?