Coronavirus: Aus Angst wurde Respekt

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22.12.2020
Für Andrea Oertig ist das Coronavirus lebensgefährlich. Physische Kontakte hat sie auf ein Minimum rediziert. Trotzdem ist sie dankbar für alles, was machbar ist.

«Du bist mein Held, wenn du aus Rücksicht mal zu Hause bleibst, Abstand hältst oder eine Maske trägst», schrieb Andrea Oertig Anfang Juli auf allesanders.ch. Ihren eindringlichen Appell richtete sie an alle, die das Virus auf die leichte Schulter nehmen. «Viele könnten das auch», sagt Andrea Oertig, verlaufe doch eine Ansteckung oft glimpflich.

«Ausser sie gehören zu einer Risikogruppe.» Wie sie: 28 Jahre alt, medizinische Praxisassistentin, seit einem Jahr verheiratet, daheim in Wittenbach. Eine quirlige junge Frau, bei der es nur so sprudelt, wenn sie erzählt. Eine aufgestellte junge Frau, von der man nie denken würde, dass sie krank ist. Andrea Oertig leidet an einer immunologischen Erkrankung. Das heisst, ihr Immunsystem stellt immer auf Abwehr, selbst wenn es nichts abzuwehren gibt. Die Folge sind Fieber und Entzündungen am Herz und im ganzen Körper. Mit Medikamenten ist das Immunsystem zu bändigen, allerdings zum Preis, dass ihre Abwehr stark geschwächt ist; so sehr, dass selbst ein kleiner «Pfnüsel» gefährlich werden kann.

Zeichen der Solidarität

«Auf einem langen Weg habe ich gelernt, mit dieser Gefahr umzugehen», sagt sie. Doch ab einer gewissen Gefahrenstufe gibt es für sie nur noch den Rückzug – etwa im vergangenen Frühjahr. «Da hatte ich lediglich mit meinem Mann und meiner Zwillingsschwester engen Kontakt und blieb daheim.» Sie übernahm die administrativen Arbeiten der Arztpraxis, blieb über Chats oder Whatsapp mit der Aussenwelt verbunden und wenn sie dennoch jemanden traf, dann draussen mit Abstand. «Ich hatte Angst», sagt sie. Weil man noch nicht viel über das Virus wusste. Und weil sie in den letzten Jahren nicht den beschwerlichen Weg gegangen sei, nur um sich jetzt dem Virus auszuliefern.

Gleichzeitig habe sie viel Verständnis und Solidarität gespürt. «Ich habe mich jeweils mega gefreut über eine Zeichnung oder ein Briefli.» Die «Krippenspielkinder» meldeten sich, Freundinnen oder Leute aus der Kirchgemeinde waren da. Sie tat es ihnen gleich, legte etwas Süsses in den Milchkasten der Nachbarn oder überraschte ihr Gottenkind mit einer Karte.

Facebook abgestellt

Inzwischen ist aus Angst Respekt geworden. Sie habe für sich einen Umgang mit dem Virus gefunden. Zwar mit vielen Einschränkungen, doch mit Inseln, etwa dem freitäglichen Treff auf dem Balkon mit einer Freundin – dick eingepackt, samt Punsch und Kerzenlicht. «Ich bin dankbar für alles, was trotzdem machbar ist.» Facebook meidet sie inzwischen. Sie könne es nicht mehr hören und lesen, wenn das Virus verharmlost werde oder jene belächelt, die sich an die Massnahmen hielten. 

«Jetzt freue ich mich auf Weihnachten.» Zwar im ganz kleinen Kreis, teilweise draussen, dafür mit viel Glitzer. Sie sei halt ein richtiges «Weihnachtsfüdli». «Und nächstes Jahr singen wir hoffentlich wieder alle miteinander.»

Text | Foto: Andreas Ackermann – Kirchenbote SG, Januar 2021

 

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