Gemeinsame Rituale verbinden

Das Band zwischen uns

von Judith Husistein
min
01.12.2024
Welche Rituale begleiteten Sie durch die Kindheit? Gemeinsame Rituale sind wie ein Band zwischen uns und anderen.

Vielleicht haben Sie schon alte Filme gesehen, in denen Schulkinder wie auf Kommando aufstehen und ein lautes «Guten Tag Herr Lehrer» rufen, wenn der gestrenge Schulmeister ins Zimmer tritt. Heute ist Schule anders, doch in vielen Schulzimmern ist es üblich, dass sich Kinder und Lehrpersonen bei der Begrüssung oder beim Abschied die Hand geben. Und in Kindergärten wird der Alltag mehrheitlich durch täglich wiederholte Lieder und Verslein strukturiert.

Glückssocken und Sonntagskleider

Doch auch ganz eigene Rituale, nur für sich allein, sind wertvoll. Vielleicht trinken Sie Ihren Morgenkaffee immer aus der gleichen Tasse und tragen bei besonderen Gelegenheiten Glückssocken. Oder benutzen Sie, wie ich, ein spezielles Parfum, wenn Ihnen etwas Schwieriges bevorsteht und Sie eine Extraportion Mut brauchen? Gerne erinnere ich mich an Rituale meiner Kindheit: Bei Unwohlsein durfte ich ins Bett der Eltern schlüpfen und dort Zwieback mit Butter essen und Tee trinken. Und an Sonntagen war meine handgestrickte Strumpfhose dunkelblau statt grau, während meine Mutter statt der karierten Werktagsschürze die schöne, weisse von der Firma Kündig & Styger trug.

Singen und Beten

Als ich Mami wurde, bekamen Rituale besonderes Gewicht. Wie schon in der eigenen Kindheit sangen auch wir mit unseren Kindern «I ghöre es Glöggli». Nur das Gebetlein war ein anderes und wurde später auch mit den Grosskindern gebetet. Da wir keinen Geschirrspüler besassen, mussten die Kinder beim Abtrocknen helfen, sobald sie gross genug waren. Das war die Zeit, in der wir gemeinsam ein Lied nach dem anderen sangen. Dadurch merkten sie kaum etwas von der ungeliebten Arbeit und lernten gleichzeitig viele fast vergessene Volks- und Appenzellerlieder. Gemeinsam zu singen war auch die beste Methode, Sticheleien und Streit im Auto zu verhindern, was bei den engen Platzverhältnissen mit vier Kindern auf der Rückbank oft nötig war.

Kleine und Grosse

Mit der Geburt und den Besuchen der Grosskinder entstanden neue Rituale. Trotz vieler Geschichten- und Bilderbücher wurde von den Kindern immer das gleiche Büchlein ausgewählt und beim Erzählen durfte absolut nichts verändert werden, bis sie längst im Schulalter waren. Inzwischen haben die grösseren Grosskinder ein eigenes Ritual. Sooft wir uns sehen, umarmen sie mich, um zu kontrollieren, ob sie bald so gross sind wie ich. Und nachdem mich der 11-jährige Enkel um einige Millimeter überholt hat, funkeln seine Augen schelmisch, wenn er mich begrüsst.

Wir brauchen Rituale

Ja, wir brauchen Rituale. Von der Geburt bis zum Tod. Gewohnheiten geben unserem Leben Ruhe und Struktur. In freudigen Momenten teilen wir durch Ritualen das Glück mit anderen Menschen und in schweren Zeiten geben sie Halt und Trost und lassen uns die Verbundenheit mit anderen Menschen ohne viele Worte spüren.

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