Das Blut schreit zu Gott

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24.03.2020
Im heutigen Strafrecht wird mit demokratisch bestimmten Sank- tionen auf eine Straftat reagiert – auch da bleibt Vergebung ein delikates, wenn auch zentrales Thema. Gefängnisseelsorge kann da viel leisten.

Den Drang zur Rache erachte ich als archaisches Überbleibsel der Evolution. Rache ist kein tierisches Erbe, sondern eher ein frühes Stadium menschlichen Rechtsempfindens. Denn wie sollte ein Mord gesühnt werden, bevor es eine gemeinsam anerkannte Rechts- und Strafnorm gab? Als Kain seinen Bruder Abel erschlug, schrie dessen Blut zu Gott. Der Mord musste gerächt werden. Kain hat teils Vergebung erfahren. Er konnte weiterleben – zwar unstet, aber geschützt. 

St. Galler Moscheenmord

In der Frühzeit war es teils eine heilige Pflicht, Verbrechen persönlich zu rächen. Reste davon leben bis heute weiter im albanischen Gewohnheitsrecht, dem Kanun. Der St. Galler Moscheemord von 2014 hatte nichts mit Islam zu tun. Der zarte Mann hat sich in der Untersuchungshaft distanziert von allen kriminellen Gefangenen. Er lebte im Bewusstsein, seine Pflicht erfüllt zu haben.

 

Die involvierten Familien haben sich im Kosovo getroffen und versöhnt.

 

Doch auch der Kanun kennt Vergebung. Ein Mann sprach eine Morddrohung aus und kam in Haft. Dann aber haben sich die Familien der Involvierten im Kosovo getroffen und sich versöhnt. Die Anklage wurde zurückgezogen. Doch die Schweizer Gerichte anerkannten diese aussergerichtliche Versöhnung nicht.

Rache bei schweren Verbrechen

Beim Gewaltmonopol des Staates wird nicht mehr von Rache gesprochen, sondern von Sanktion oder Strafe. Doch der Rachegedanke spielt bei der Bevölkerung bis heute eine Rolle, vor allem bei Vergewaltigungen, Kindsmissbrauch oder Mord. Die Täter (95 Prozent Männer) sollen – wenn nicht gerade umgebracht – möglichst hart bestraft oder verwahrt werden. Dieses Vergeltungsstrafrecht habe sich zu einem Schuldstrafrecht und aktuell zu einem Risiko- und Präventionsstrafrecht gewandelt, erklärt Martin Vinzens,
Direktor der Strafanstalt Saxerriet.

Reue und Einsicht

Wird von Schuld gesprochen, geht es im Strafvollzug auch um das Innenleben der Täter und Opfer. Folglich wird mit der sozialen Begleitung und mit Therapie darauf hingearbeitet, dass die Täter ihre Schuld einsehen, bereuen und einen Beitrag zur Wiedergutmachung leisten. Eigentliche Vergebung bleibt ein offenes, tief persönliches Thema. Tateinsicht und Reue hängen auch mit Selbstvergebung und Glauben zusammen. 

Schutz vor gefährlichen Tätern

Spürbar und im säkularen Kontext wirksam ist «Vergebung» durch die Erlassung eines Drittels der Strafe bei guter Führung und Prognose. Ich habe als Gefängnisseelsorger viele Papiere gelesen und erläutert, welche sich auf die Gewährung oder Verweigerung der frühzeitigen Entlassung beziehen,

 

Es bleiben Rachegefühle gegenüber dem, der die Drogengeschäfte verraten hat.

 

auch bezüglich einer Verwahrung, bei welcher psychiatrische Gutachten ins Spiel kommen. Heute will die Gesellschaft vor allem vor potenziell gefährlichen Menschen geschützt sein – «Risiko- und Präventionsstrafrecht». 

Wo die Drogen versteckt sind

Obwohl versucht wird, Straftaten möglichst objektiv zu sanktionieren, bleiben bei den Strafgefangenen oft Rachegefühle: gegenüber dem, der die Drogengeschäfte verraten hat, gegenüber der Frau, welche die Scheidung wollte und darum an allem Unglück schuld ist. Gegenüber der Staatsanwältin oder gegenüber dem Angestellten im Strafvollzug, der durch seine langjährige Erfahrung weiss, wo das Smartphone oder wo die Drogen versteckt sind.

Was Seelsorge leisten kann

Seelsorge heisst dann: genau hinhören und Fragen stellen, die alte Muster, Massstäbe und Wertungen relativieren, neue Horizonte eröffnen und im besten Fall Vergebung als echte Heilung erfahren lassen. Denn Rachegefühle sind primär subjektiv, als solche aber auch durch Erziehung, Gewohnheit oder sogar religiöse Vorstellungen begründet. Entlasten kann dann der Glaube, dass letztlich Gott richtet – teils schon auf Erden, indem er «Tun und Ergehen» in einen Zusammenhang bringt und durch unsere «Vergebung» den Kreislauf des Leidens aufbrechen kann.

Text | Foto: Andreas Schwendener, Gefängnisseelsorger, St. Gallen – Kirchenbote SG, April 2020

 

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