Das Emailgeschirr musste weg
Doch nicht im Guten. «Der Pfarrer schimpfte dauernd über Andersgläubige, machte sie schlecht», sagt die 87-Jährige. Dies konnte Ursula Luder nicht leiden. Sie sei mit weltoffenen Eltern gross geworden. Der Mensch, nicht seine Konfession, stand im Zentrum. Die Lichtensteigerin kann denn auch differenzieren, das Gute im Pfarrer sehen. «Er wusste und vermittelte uns viel, obwohl er streng war. Es galt im Konfirmationsunterricht, das Kirchengesangsbuch auswendig zu lernen, Predigten zu schreiben und sie vorzutragen.»
Der Spruch als Schmugglerversteck
Bis zur Konfirmation liess der Pfarrer die Oberaargauer im Unwissen, welchen Spruch sie erhielten. Klar war hingegen: Für die Konfirmation durfte niemand zum Coiffeur gehen, Mädchen hatten einen schwarzen Rock und Zöpfe zu tragen und in der ersten Kirchenbankreihe Platz zu nehmen. Den Denkspruch zur Konfirmation aus 4. Mose 6,24-26 zu erhalten, war aber für die damals 16-Jährige kein Muss, sondern ein grosses Geschenk. Als sie kurz darauf ins Welschland ging, um in einem Waisenhaus zu arbeiten, kam das Bibelzitat mit. Es lag vorerst versteckt unter dem Kopfkissen. Später in der Handelsschule und Lehre aber war es immer aufgehängt und in der Nähe. Auch in der Ferne.
«Vor der Abreise steckte mein Vater mir noch Geld zu.»
Denn nach der Bäuerinnenschule wollte Ursula Luder ins Ausland. Sie zog es nach Malmö, ihren damaligen Freund und späteren Mann Hans-Rudolf Gygax nach Dänemark. «Vor der Abreise steckte mir mein Vater noch Geld zu.» Er meinte, sollte es ihr schlecht ergehen, könne sie so heimkommen. Da es verboten war, Geld auszuführen, versteckte Ursula Luder die Noten im gerahmten Konfirmationsspruch, der selbstverständlich mit nach Schweden kam.
Am gleichen Tisch mit den Angestellten
Hier, im Norden, auf einem Gutshof, schlief sie als Angestellte auf Stroh- und Laubsäcken, ass alleine, separat an einem Tisch, das Geschirr war weniger fein als das der Herrschaften. «Damals hab ich mir geschworen, all dies würde ich Mitmenschen nie antun.» Keine leeren Worte. – Als sie Anfang der 1960er Jahre mit ihrem Mann begann, die Strafanstalt Bitzi in Mosnang zu führen, schliefen die Insassen noch auf Strohsäcken, assen ein separates Menü aus Emailgeschirr. Es dauerte nicht lange, da schmiss Ursula Gygax die zerbeulten Teller und Tassen für die Insassen fort, ass mit den Angestellten am selben Tisch und kochte fortan nicht mehr drei Menüs, sondern für alle das gleiche Gericht.
«Auch die Stroh- und Laubsäcke mussten weg.»
Auch die Strohsäcke der Anstaltsbetten mussten raus. Die quirlige Frau setzte sich durch und besorgte den Sträflingen nach zwei Jahren Matratzen. Die 87-Jährige sagt heute: «Der Lebensweg eines Menschen ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, was er in seinem Glauben aus den Gelegenheiten und Umständen macht. Das ist prägend.»
Text | Foto: Katharina Meier – Kirchenbote SG, November 2019
Das Emailgeschirr musste weg