«Das Milizsystem ist unter Druck»

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25.05.2022
Markus Ramm begleitet Kirchgemeinden in ihren Entwicklungsprozessen. Der Beauftragte für Gemeindeentwicklung ist auch Pfarrer in Degersheim. Im Interview erzählt er, wo es knirscht im Getriebe und was Kirche letztlich ausmacht.

Herr Ramm, Sie beraten St. Galler Kirchgemeinden in ihrer Entwicklung und bei Konflikten. Wo brennt es?
Markus Ramm: Ich sehe aktuell mehrere Brennpunkte. Da ist einmal der Bedeutungsverlust der Kirche in der Gesellschaft: Die Kirchgemeinde hat den Anspruch, vor Ort gesellschaftlich relevant zu sein. Anspruch und Resonanz klaffen aber oft auseinander. Das verursacht Spannung und Frustration.

Was sind weitere Brennpunkte?
Das Milizsystem ist unter Druck, nicht nur in der Kirche. In grösseren Gemeinden gibt es vielleicht drei, vier Pfarrpersonen, zwei sozialdiakonische Mitarbeitende, Religonslehrpersonen, Mesmerinnen.

 

«Comander, der Reformator von Chur, hat schon vor 500 Jahren mit dem Gedanken gespielt, die Menschen sonntagmorgens mit der Polizei aus der Beiz in die Kirche zu bringen.»
Markus Ramm

 

Wenn ein Präsident der Kirchenvorsteherschaft ein solches Gebilde führen will, muss er entweder 30 bis 40 Prozent Arbeitszeit aufwenden oder ein partizipatives Führungsmodell haben, bei dem die Ressorts gestärkt sind. Das ist keine leichte Aufgabe. Der Kirchenrat arbeitet im Rahmen der «Vision 2025» daran, wie Kirchgemeinden unterstützt und neue Organisationsformen entwickelt werden können.

Haben es kleine Gemeinden leichter?
Nein. Kleine Gemeinden haben oft Probleme, geeignete Personen für Ehrenämter zu finden. Auch das klassische Einzelpfarramt gibt es in unserer Kantonalkirche nur noch selten.

Wie sollen sich die Pfarrpersonen in einer Kirchgemeinde aufteilen: Territorial – jede Pfarrerin ist für einen Dorfteil oder ein Quartier zuständig – oder funktional – eine Pfarrerin macht Jugendarbeit, eine Erwachsenenbildung, eine Seniorenarbeit?
Eine funktionale Aufteilung mit verschiedenen Professionen finde ich moderner. Allerdings habe ich durch eine Studie zum Teampfarramt gelernt, dass eine Pfarrperson auch dann für ihre Berufsidentität stabile Beziehungen braucht. Als Pfarrer muss ich wissen, warum ich für wen da bin. Wenn ich nicht mehr Pfarrer in einem bestimmten Einzugsgebiet bin, brauche ich trotzdem noch Menschen, die mir zurückmelden: «Du bist unser Pfarrer.» Sonst zerbricht mein Berufsbild.

Ein Pfarrer braucht seine Schäfchen.
Wenn man so will, ja. Das ist auch bei einer funktionalen Aufteilung möglich. Auch wenn eine Pfarrperson fast ausschliesslich Konfirmandenarbeit, Elternarbeit oder Seniorenarbeit macht, müssen sich stabile Beziehungen entwickeln können. Ich habe das mit Blick auf Fusionen unterschätzt.

Welchen Stellenwert hat der Gottesdienst in der Gemeinde?
Mir persönlich ist er wichtig. Auch halte ich nichts von der aktuell beliebten Kritik an der Predigt, wenn sie mit hoher Qualität gehalten wird. In der Regel besuchen zwei bis vier Prozent einer Kirchgemeinde den Gottesdienst. Viele Besucher sind auch früher nur durch Kontrolle und sozialen Druck gekommen. Comander, der Reformator von Chur, hat schon vor 500 Jahren mit dem Gedanken gespielt, die Menschen sonntagmorgens mit der Polizei aus der Beiz in die Kirche zu bringen. Der Gottesdienstbesuch hatte nie die Breite, der heute nachgetrauert wird. Ausser vielleicht in Hochphasen im frühen Christentum und in einigen Phasen des Pietismus.

Wie wird die Gemeinde sichtbar, wenn nicht im Gottesdienst?
Die Frage ist: Was ist heute kirchliche Gemeinschaft? Wenn Jugendliche im Kirchgemeindehaus zusammen Spaghetti kochen, ist das Kirchgemeinde? Und wenn sie draussen bräteln? Ist es dann nur Kirchgemeinde, wenn ich als Pfarrer dabei bin und am Ende drei Stunden Arbeitszeit aufschreibe? Davon hängt es doch nicht ab.

Was ist denn kirchliche Gemeinschaft?
Kirche ist dort, wo Menschen miteinander als Glaubensgemeinschaft unterwegs sind. Egal, ob sie im Kirchgemeindehaus Spaghetti essen oder wandern, ob eine Pfarrperson dabei ist oder nicht. Wenn sie – etwas platt gesagt – wissen: Wir sind mit konkretem Bezug zu unseren Mitmenschen hier am Ort zusammen, weil wir Christinnen und Christen sind.

Interview | Foto: Stefan Degen

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