Fokus: Schönheit

«Das Wesentliche klingt zwischen den Tönen»

von Tilmann Zuber
min
08.07.2024
Warum empfinden wir Musik als schön? Weil das Wesentliche zwischen den Tönen erklinge, meint die Sopranistin Gudrun Sidonie Otto.

Der Dirigent Wilhelm Furtwängler habe einmal gesagt, das Wesentliche liege hinter den Noten, erzählt Gudrun Sidonie Otto. «Ich meine, das Wesentliche klingt zwischen den Tönen.» Die in Binningen lebende Pfarrerin und Sopranistin ist immer noch auf vielen Opernbühnen und Konzertpodien weltweit zu Hause. Musik sei dann schön, wenn der Raum zwischen den Tönen atme. Sonst sei Musik nichts anderes als eine mechanische Aneinanderreihung von Tönen.

Für Gudrun Sidonie Otto ist das fast biblisch: «Der Kirchenvater Augustinus hat gesagt, dass Gott im Dazwischen sei: ex nihilo.» In der Musik, sagt Gudrun Sidonie Otto, sei es wichtig zu atmen. «Musik, das sind nicht nur die einzelnen Töne, sondern der Atem und der Raum dazwischen. Dann kann sich Schönheit entfalten.»

Schönheit braucht Raum

In der Hektik des Alltags gehe dieser Atem verloren. Gehetzte Menschen könnten keine Schönheit ausstrahlen. Heute werde alles beschleunigt und immer noch schneller, die Frequenz des Alltags sei entschieden zu hoch. Musik und Gesang könnten dem entgegenwirken und uns wieder zu einem entspannten Rhythmus verhelfen. «Schönheit braucht Raum», ist Gudrun Sidonie Otto überzeugt. «Raum, um wahrgenommen zu werden, und so strahlt Schönheit von innen heraus. Dabei spiele es keine Rolle, ob man Profi oder Laie sei. «Manchmal strahlen Laien viel mehr aus. Wenn zum Beispiel ein Kind schiefe Töne spielt, aber beseelt, kann das unglaublich berührend sein.»

Wenn wir einen Ton erzeugen, dann ist das so, als würden wir dem Kosmos etwas entnehmen. Wenn der Ton schwingt und wieder verklingt, dann holt sich der Kosmos dieses Etwas wieder zurück.

Auf der Bühne spürt die Sängerin, wenn die Musik das Publikum berührt. Der Raum dazwischen beginnt sich zu füllen, die Menschen werden empfänglich für die besonderen Schwingungen der Musik. «Wenn diese Berührung fehlt, verändert sich die Stille im Saal. Die Leute werden unruhig, sie rascheln und rutschen auf den Stühlen hin und her.»

Ein Kosmos voller Fantasie

Mit fünf Jahren begann Gudrun Sidonie Otto Klavier zu spielen, später lernte sie Geige, belegte Gesang und Dirigieren. Musik war für sie ein Zufluchtsort, ein magischer Raum voller Fantasie, Bilder, Farben, Töne und Rhythmen. Das ist auch heute noch so. Und wie der grosse Dirigent Sergiu Celibidache meint sie: «Wenn wir einen Ton erzeugen, dann ist das so, als würden wir dem Kosmos etwas entnehmen. Wenn der Ton schwingt und wieder verklingt, dann holt sich der Kosmos dieses Etwas wieder zurück.» Für Gudrun Sidonie Otto wird das eigene Ich dabei völlig nebensächlich.

Johann Sebastian Bach wird als «fünfter Evangelist» bezeichnet, Gudrun Sidonie Otto stimmt dem zu. Für sie ist Bach wie ein Baumeister mittelalterlicher Kathedralen. Seine Musik sei vieldimensional. «Bachs Musik hat eine Klangvielfalt, die wir mit unserem Verstand allein gar nicht durchdringen können.» Seine Musik spreche so auch Menschen an, die mit klassischer Musik ansonsten wenig zu tun haben. Dann sitzen sie in einer Bach-Passion und sind völlig überwältigt.

Gudrun Sidonie Otto ist davon überzeugt, dass Musik zur Gesundheit beitragen kann. «Musik kann heilen», sagt sie. Traurigen und depressiven Menschen empfiehlt sie, Lieder gleich einem «immerwährenden Herzens-gebet» in sich klingen zu lassen und vor sich hin zu singen. Am 28. Juli, dem Todestag Bachs, wird Gudrun Sidonie Otto wieder als Solistin beim traditionellen Bach-Gedächtniskonzert im Basler Münster auftreten.

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