Dasein ohne Bewusstsein
Er war sich sicher, dass Demenz keine Krankheit ist. Er beschrieb sie als ein Nachlassen an Lebenskraft. So wie bei den Spitzensportlern, die schon mit 30 Jahren ihre extreme Leistungsfähigkeit verlieren. «Niemand wird behaupten, dass sie krank geworden sind. Sie müssen sich in ihrem Leben neu orientieren», schreibt er. «Ähnliches gilt für uns alle, wenn sich zwischen 60 und 70 Jahren ein Prozess der Alterung einstellt.»
Alt und lebenssatt
Für Josuttis ist der Leib nicht das Gefängnis der Seele. Er betont die biblische Tradition, für die die Seele die Lebenskraft des Leibes bedeutet. Und diese Lebenskraft artikuliert sich im Leib für eine bestimmte und begrenzte Zeit auch als Bewusstsein.
Die Bibel erzählt, dass Patriarchen wie Abraham alt und lebenssatt sterben. Heute heisst die zugespitzte Form der Lebenssattheit Demenz. Irgendwann haben wir genug erlebt, irgendwann ziehen wir uns aus dem Getriebe des Lebens zurück: «Aus dem Druck der Leistungsgesellschaft in die Erschöpfung, aus den Turbulenzen der Erlebnisgesellschaft in das Desinteresse, aus den Ansprüchen der Kommunikations- und Bildungsgesellschaft hinein in Stille und Schweigen.» So kehrt der Mensch wieder zurück in das Dasein ohne Bewusstsein.
Die Welt wird kleiner
Josuttis betont, dass Demenz im Prozess der Alterung auftaucht, in einem negativen Wachstum also. Die Welt, die wir mit der Geburt immer weiter erobern, wird im Alter wieder kleiner. Wir gelangen wieder in eine «primitive Gegenwart» (H. Schmitz). Unser leibliches Dasein gerät dabei in eine Befindlichkeit, in der wir noch nicht (als Baby) oder nicht mehr (in der Demenz) zwischen «Hier, Jetzt, Dasein, Dieses und Ich» unterscheiden können.
Dasein ohne Bewusstsein bedeutet dann: Existenz in Selbstvergessenheit. Gerade dieser Gedächtnisverlust steht meistens im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wie sollen wir uns mit einem Menschen verständigen, der nicht mehr weiss, wie es war, wer er ist, und der infolge dessen auch nicht mehr sagen kann, wie es sein soll und was er will? Mit dem Bewusstsein geht die Zeit verloren. Mit dem Ich verschwindet die Sprache. Übersehen wird dabei die Tiefenschicht des leiblichen Daseins, zu der auch ein Erinnerungsvermögen des Körpers gehört, das Leibgedächtnis. Beim Essen und Trinken beispielsweise sind die körperlichen Abläufe ziemlich ritualisiert, einmal gelernt, vergisst der Leib das nicht mehr. Dazu gehört auch das zwischenmenschliche Kraftfeld, in das wir eintreten, sobald wir uns einander nähern. In der Demenz hat die Person die Kontrolle über ihre Selbstdarstellung verloren, aber das elementare Gespür für andere behalten.
Seligkeit statt Verdammnis
Manfred Josuttis schliesst mit unserer Hoffnung auf ein Leben nach unserem irdischen Dasein. Er schreibt: «Menschen ohne Bewusstsein sind, ohne es zu wissen, auf dem Weg in diese andere Welt. Was sie unseren Worten entnehmen, wissen wir nicht. Aber in unserem Atem, in unserer Stimme, in unseren Händen kann mitschwingen, dass Geborgenheit statt Einsamkeit, Glück statt Verzweiflung, Erbarmen statt Angst, Seligkeit statt Verdammnis auf uns warten. Auch ohne viele Worte können wir zu einem seligen Sterben helfen.» Vielleicht ist ja dies das letzte Geheimnis des Lebens: Das Dasein ohne Bewusstsein, die einfache Gegenwart, erwartet uns alle im Koma und wird zuguterletzt in ewige Gegenwart verwandelt werden. Von der Zeit davor redet die Bibel manchmal sehr radikal: «Wir sind von gestern her und wissen nichts: unser Leben ist ein Schatten auf Erden» (Hiob 8,9).
Dasein ohne Bewusstsein