«De Bape isch nöd din Bape»
Nathalie Haller kam 1982 zur Welt. Lange hatten ihre Eltern versucht, ein Baby zu bekommen. Als es endlich klappte und die kleine Nathalie das Licht der Welt erblickte, war sie das Ein und Alles für ihre Mutter. «Meine Eltern hatten jung geheiratet. Kaum war ich geboren, wurde meine Mutter wieder schwanger. So sind meine Schwester und ich nur eineinhalb Jahre auseinander», erzählt die Primarlehrerin.
Das Schulzimmer ist voller Basteleien, es strotzt vor Kreativität. Schon als Kind hat die heute 39-Jährige gezeichnet. Was sie malte, löste bei der Mutter allerdings Sorgen aus: «Ich zeichnete zum Beispiel meine Familie, und ich war eine Fledermaus in der Ecke des Bildes», erinnert sich die Sankt-Gallerin. Die Mutter zeigte die Zeichnungen dem Kinderarzt, aber nichts passierte. Die junge Frau hat als Kind mehrmals ihre Mutter gefragt, ob sie im Spital vertauscht oder adoptiert worden sei: «Vielleicht hatte ich unbewusst mal etwas aufgeschnappt? Ich weiss nicht, wieso ich diese Fragen gestellt habe. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass ich mich in meiner Familie fremd gefühlt hätte.» Die Mutter wiegelt bei ihren Nachfragen aber immer ab. Nathalie Haller war zwar oft in sich gekehrt, doch das war anderen familiären Problemen geschuldet. Als sie acht Jahre alt war, kam ihre zweite Schwester zur Welt.
«Als wir von der Samenspende erfuhren, haben wir in den Spiegel geschaut und waren uns fremd.»
Als Nathalie Haller 17 Jahre alt war und das Gymnasium besuchte, verliebte sie sich in einen Ägypter. «Ich ging dann mit 20 von der Schule ab und zog mit ihm nach Ägypten. Ich wollte lieben und geliebt werden», versucht sie ihre Entscheidung nachzuvollziehen. Nathalie Haller steckte damals in einer schwierigen Situation: Die Eltern waren nicht begeistert, ihre Schwester wurde sehr jung Mutter und Nathalie hatte die Schule abgebrochen. Nach einem knappen Jahr kam das Paar zurück in die Schweiz: «Meine Eltern haben sich gefreut, dass wir wieder da waren. Doch für meinen Partner war es nicht einfach, als dunkelhäutiger Muslim im Rheintal eine Stelle zu finden.»
Die Eltern von Nathalie Haller liessen sich scheiden, sie absolvierte die Handelsschule und landete im Büro – das Paar wurstelte sich durch. Dann kam das für die junge Frau schicksalhafte Jahr 2008. «Nach neun Jahren Beziehung trennten wir uns. Obwohl die Trennung von mir ausgegangen war, war es eine sehr schwierige Zeit», erinnert sie sich. Und als ob das nicht genug war, eröffnete Nathalie Hallers Mutter ihrer damals 26-jährigen Tochter, dass sie durch eine Samenspende gezeugt worden und somit ihr sozialer Vater nicht ihr leiblicher Vater sei.
Wütend und enttäuscht
«Sie hatte es mir schon früher sagen wollen, aber mein Vater war dagegen. Nach der Scheidung hat sie dann endlich Mut gefasst und es mir – ohne Vorwarnung – gesagt: De Bappe isch nöd din Bappe», erzählt sie. Bevor die Mutter ihrer Tochter reinen Wein einschenkte, fragte sie bei deren Schwester nach, ob sie auch finde, dass Nathalie das erfahren solle – was diese bestätigte. Die Neuigkeit zog Nathalie Haller fast den Boden unter den Füssen weg.
Tausend Dinge gingen Nathalie Haller durch den Kopf, als ihre Mutter ihr von der Samenspende erzählte. «In meiner Familie haben sich alle irgendwie komisch gefühlt – weil wir eben Familienprobleme hatten. Niemand kam auf die Idee, dass ich nicht das leibliche Kind meines Vaters bin», erklärt sie. Trotzdem: Ihre Schwestern sind beide hellere Typen, sehen dem Vater ähnlich. Sofort fragte sie sich: «Wer bin ich denn, wenn er nicht mein leiblicher Vater ist?» Sie ist wütend und enttäuscht. «Ich hatte meine Mutter mehrmals gefragt, ob sie beide wirklich meine Eltern seien, und sie hatte mich immer angelogen. Meine Eltern haben mir dadurch viel verwehrt. Sie haben mir meine Wahrheit vorenthalten», betont sie.
Wieso ihre eigene Identität sofort in Frage gestellt wurde, als Nathalie Haller mit 26 Jahren eröffnet wurde, dass jemand anders ihr leiblicher Vater ist, als sie bisher dachte, kann die reflektierte Frau sehr genau erläutern: «Wir müssen uns alle in Beziehung zu unserem Umfeld setzen. Wir sind mit unseren Eltern verbunden, übernehmen positive und negative Eigenschaften. Mir fehlt nun einer von zwei Bezugspunkten. Denn 1982 waren Samenspenden noch anonym und ich konnte im Spital, in dem meine Mutter behandelt worden war, nicht herausfinden, wer der Samenspender war», bedauert sie.
Die Neuigkeit hat das Verhältnis zwischen Nathalie Haller und ihren Eltern beeinflusst. «Mein Vater war schon immer verschlossen und distanziert. Dadurch, dass ich plötzlich wusste, dass er nicht mein biologischer Vater ist, habe ich mich mehr für sein Wohlergehen verantwortlich gefühlt», sagt sie. Er habe Angst gehabt, dass sie ihn nicht mehr als Vater sehe, deshalb wollte der Vater nicht, dass sie die Wahrheit erfährt. Mit der Mutter sei die Kommunikation sowieso schwierig gewesen, und sie habe den Kontakt dann lange Zeit abgebrochen - allerdings nicht aufgrund der späten Enthüllung, sondern aus anderen Gründen.
Ihre Geschwister haben die Neuigkeit unterschiedlich aufgenommen. «Meine jüngere Schwester nahm es recht locker. Doch meiner älteren Schwester war ich damals sehr nah. Sie hatte Angst, mich zu verlieren, dass ich von ihr wegtreibe», erzählt Nathalie Haller. Ihr selbst ging es damals nicht mehr gut. Sie habe nicht gewusst, wie sie ihre Gefühle – Wut, Enttäuschung und Verwirrung –artikulieren sollte. «Ich mochte nicht mehr aufstehen, hatte keine Energie mehr, wurde depressiv», erinnert sie sich.
Nach der Enthüllung vor dreizehn Jahren ging Nathalie Haller zur ersten Therapie: «Doch der Therapeut wollte mir gleich Medikamente verschreiben, das wollte ich nicht.» Es ging auf und ab. Sie kündigte ihren Job, zog in eine WG und arbeitete im Service, weil sie die Matura nachholen und die Pädagogische Hochschule abschliessen wollte. Doch trotz der Veränderungen in ihrem Leben ging es der jungen Frau immer schlechter - die Samenspende und die Konsequenzen daraus spielten dabei eine untergeordnete Rolle: «Damit habe ich mich so phasenweise beschäftigt.»
«Ein Spenderkind zu sein, ist nicht eine Erfahrung, die man mit vielen teilt.»
Zwischendurch forschte Nathalie Haller nach ihrem leiblichen Vater, doch es fanden sich keine Unterlagen mehr. «Wenn man bedenkt, dass viele Geschwister in Familien von den gleichen Samenspendern gezeugt wurden, wird schon klar, dass das damals irgendwo verzeichnet wurde», ist sie überzeugt. Die Primarlehrerin vermisste es, sich mit anderen in einer gleichen Situation auszutauschen. «Zum Thema Scheidung war es nicht schwierig, andere Betroffene zu finden und darüber zu reden. Aber ein Spenderkind zu sein, ist nicht eine Erfahrung, die man mit vielen teilt», gibt sie zu bedenken.
Zwölf Halbgeschwister
Umso froher war Nathalie Haller, als sie auf den Verein Spenderkinder stiess. Endlich traf sie Menschen in einer ähnlichen Situation. «Sie erzählten mir von den Gentests, die man machen lassen kann. Ich machte auch einen und gab meine Daten in der Datenbank frei. Doch es gab keine Übereinstimmung», bedauert sie. Nach dem zweiten Test etwas später dann der Sechser im Lotto: Nathalie Haller findet einen Halbbruder, der mit seiner Zwillingsschwester in London lebt. «Da er ein Mann ist, ging ich davon aus, dass er dem Spender ähnlich sieht. Wir hatten losen Kontakt. Die Zwillinge wussten, seit sie Teenager waren, dass sie mit Hilfe einer Samenspende gezeugt worden waren. Als Zwillinge waren die zwei aber nie allein mit dieser Information», sagt die 39-Jährige. Für sie unverständlich, bricht der Halbbruder plötzlich den Kontakt ab. «Ich könnte mir vorstellen, dass es für ihn zu viel wurde», vermutet sie.
Ein Jahr später hat Nathalie Haller einen weiteren Treffer in der Datenbank: Ihre neue Halbschwester heisst tatsächlich auch Nathalie und ist, wie sie, Lehrerin. «Wir wollten uns kennenlernen und haben uns getroffen. Wir haben uns sehr aufmerksam angeschaut», erzählt sie lachend. Die zwei Frauen sind sich sympathisch.
Im Laufe der Zeit kommen immer mehr Halbgeschwister dazu. Inzwischen sind es zwölf Halbgeschwister, die durch eine Samenspende des gleichen leiblichen Vaters gezeugt wurden. «Wir vermuten aber, dass er bis zu 50 Kinder gezeugt hat, wenn schon wir zwölf uns gefunden haben durch diese Gentests. Das haben ja sicher nicht alle gemacht», ist sie überzeugt. Nicht alle der Halbgeschwister haben den Test gemacht, weil sie von der Zeugung durch eine Samenspende wussten. Es gab auch solche, die erst durch den Test und das Finden von Halbgeschwistern herausfanden, dass ihr Vater nicht ihr leiblicher Vater ist.
Biologischer Vater im Fokus
Die meisten Halbgeschwister kommunizieren heute in einem Whatsapp-Chat und tauschen sich viel aus. Es verbindet sie mehr als Freundschaft. «Einige sind echte Hobbydetektive und versuchen alles, um unseren leiblichen Vater zu finden», erzählt Nathalie Haller schmunzelnd. Inzwischen scheint klar: Der Samenspender ist ein Süditaliener und war wahrscheinlich Mitarbeiter im Spital St. Gallen, also vielleicht ein Arzt. Das passt, findet Nathalie, denn: «Wir haben fast alle einen sozialen Beruf.» Selbst ist Nathalie Haller nicht mehr so aktiv bei der Suche. Denn die Halbgeschwister seien alle Versionen des leiblichen Vaters. «Sie sind alle tolle Menschen. Sie kennenzulernen, hat mir dabei geholfen, zu erkennen, dass demnach auch ich okay sein muss», erklärt sie. Trotzdem würde sie ihn gern treffen: «Ich würde gerne diese Leere einordnen, mich in Bezug zu ihm setzen und ein Gefühl für ihn bekommen. Die Fragezeichen sind zermürbend», erläutert sie. Das fängt schon mit dem Blick in den Spiegel an. Alle Halbgeschwister haben das ähnlich erlebt: «Als wir von der Samenspende erfuhren, haben wir in den Spiegel geschaut und waren uns fremd.»
Nathalie Haller ist froh, dass es heute ein Spenderdatenregister gibt: «Früher hat man einfach die Eltern und die Spender geschützt, niemand hat an die Kinder gedacht. Ich bin sicher, es gibt eine grosse Dunkelziffer von Menschen, die nicht wissen, dass sie durch eine Samenspende gezeugt wurden.» Sie ist sicher: Wer in einem guten Daheim mit viel Liebe aufwächst und eine gefestigte Identität hat, wird nicht so aus der Bahn geworfen wie sie, wenn das rauskommt. «Kinder sollten begleitet werden», findet sie.
Heute steht Nathalie Haller mitten im Leben. Mit der Mutter konnte sie sich kurz vor deren Tod noch versöhnen, mit dem Vater pflegt sie ein liebevolles, aber recht oberflächliches Verhältnis. «Es geht mir stetig besser, und ich frage mich, wie weit es noch aufwärts gehen kann», sagt sie lachend. Angst davor hat sie nicht, denn in der Therapie, die sie gerade abschliesst, hat sie unheimlich viel über sich gelernt. «Ich kann heute über meine Reaktionen selbst entscheiden und bin ihnen nicht mehr ausgeliefert. Ich verdanke meiner Therapeutin sehr viel», betont sie. Das Thema Samenspende wird sie aber ein Leben lang begleiten. Nur schon die Tatsache, dass ihre Halbgeschwister Kinder haben, führt dazu, dass der fehlende biologische Vater im Fokus bleibt. «Wenn ein Arzt fragt, ob es in unserer Familie Erbkrankheiten gebe, wissen wir nur die halbe Antwort. Solange er unbekannt ist, wird er in unseren Hinterköpfen bleiben», ist sie sicher.
Text | Foto: PACH Pflege- und Adoptivkinder Schweiz – Kirchenbote SG, Januar 2022
«De Bape isch nöd din Bape»