Den Beziehungsknäuel lockern

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21.01.2019
«Du hast angefangen!» – «Nein, du!» Das Kinderbuch mit diesem Titel, das auch Erwachsene mögen, liegt im Wartezimmer der kirchlichen Beratungsstelle Miteinander leben» in St. Gallen. Hier sitzen zum Beispiel Paare mitten in einer Beziehungskrise, und Einzelpersonen, die eine Trennung verarbeiten möchten. Manchmal sucht auch eine ganze Familie Hilfe.

Es beschäftigen Fragen wie: Wann hat der Streit eigentlich angefangen? Wie hat er angefangen? Und, ja, vielleicht auch: Wer hat angefangen? Was immer in den Köpfen und Seelen vorgeht: Es eint die Hoffnung, dass durch die Beratung etwas besser wird.

Keine «Gwundernasen»
Dann geht die Tür zum Wartezimmer auf, und Achim Menges oder Andrea Imper Kessler bittet zum Gespräch. Beide sind Psycho-therapeuten, spezialisiert auf Paar- und Beziehungsfragen. Was erwartet die Hilfesuchenden jetzt? Achim Menges zückt eine A4-Kopie, ein Ferienmitbringsel der Neujahrstage. In einer Galerie hat er die Worte einer Künstlerin entdeckt: «curious not nosey». Übersetzen kann man das mit «neugierig, aber nicht aufdringlich». «Das beschreibt unsere Haltung sehr genau», sagt Menges. «Die wichtigsten Werte unserer Beratungsarbeit sind Ernsthaftigkeit, Sorgfalt und ein offenes Menschenbild.» Es ist das mitfühlende Inte-resse an dem, womit Menschen kämpfen. Aber es ist eben kein «Rumschnüffeln» – wie das im englischen «nosey» auch mitschwingt.

«Klienten und Therapeuten sind auf Augenhöhe.»

In dieser Haltung beginnen die Therapeuten ein Gespräch. Sie ist hilfreich, weil Klienten so die Nervosität verlieren. Denn viele vermuten im Vorfeld einen durchleuchtenden «Psychologenblick». 

Was sind klassische Konflikte in der Arbeit der beiden Einzel-, Paar- und Familientherapeuten? «Wiederkehrende Themen sind etwa Aussenbeziehungen, Schwierigkeiten bei der Kommunikation und Lebensübergänge, wenn Kinder geboren werden oder aus dem Haus gehen», sagt Andrea Imper Kessler. 

Was in der Beratung weiter passiert, klingt im Verhältnis zur Dramatik, die sich bei Trennungen und Neuanfängen abspielen, reichlich unspektakulär. «Die Klientinnen und Klienten geben uns einen Auftrag. Sie sagen, was sie besprechen und verändern wollen. Gemeinsam entwickeln wir ein Beratungsziel.» Dieser Teamgedanke bedeutet: Klienten und Therapeuten sind auf Augenhöhe. Es werden keine Belehrungen erteilt. Aber es braucht auch die Mitarbeit der Ratsuchenden. Fehlt ein Wille zur Veränderung, sprechen die Therapeuten dies an. Es kann sogar sein, dass die Beratung darauf abgebrochen wird.

Den Streit aufstellen
Aber: Wer in einer Krise steckt, ist manchmal müde von der Beziehungsarbeit und möchte vielleicht einfach von jemandem hören, was zu tun sei. Menges und Imper Kessler kennen das. «Wir werden ab und zu gefragt: ‹Was würden Sie an meiner Stelle tun?›» Dann sei es wichtig, keine Ratschläge aus der eigenen Erfahrung zu geben. «Denn es geht darum, dass die Menschen ihre eigenen Lösungen finden und wir sie dabei unterstützen.»

«Es kann vorkommen, dass in einem Gespräch dicke Luft herrscht.»

In den Gesprächszimmern gibt es Dinge, die auffallen. An einer Wand hängt ein Bild mit dem Titel «Nichts ist unmöglich». Es zeigt einen Mann, der auf der Kippwaage einen Elefanten in die Höhe stemmt. Oder es gibt zwei, rund zwanzig Zentimeter hohe Holzmenschen mit gelenkigen Körperteilen. 

So nüchtern der Ablauf einer Beratung – Auftrag geben lassen, Ziel finden – klingt, so emotional aufgeladen können Gespräche sein. «Es kann vorkommen, dass in einem Gespräch dicke Luft herrscht», sagt Imper Kessler. «Was dann hilft, ist Distanz. Das gelingt oft, indem wir Tempo rausnehmen, mit Figuren arbeiten und zum Beispiel ein Gespräch nachstellen.» 

Systemische Psychologie
Wenn ein Paar einen Streit mit diesen Holzfiguren «aufstellt», sich überlegt, wo und wann was passiert ist, was die Körperhaltung, was die Wortfolge war – dann sind die Rollen plötzlich nicht mehr so klar verteilt, wie es schien. Es kann sich zeigen, dass beide ihren je eigenen Blick auf den Streit haben. Wollen sie weiterkommen, brauchen sie die Sichtweise des anderen. 

«Unsere Beratungsstelle ist damit auch ein diakonisches Angebot.»

Dieses Vorgehen kommt aus der systemischen Psychologie. Der Grundgedanke ist: Menschen leben nicht für sich allein, sondern in «Systemen» wie der Familie oder dem Freundeskreis. Jeder Teil des Systems hat Einfluss auf die andern Systemteile und umgekehrt. «Wir setzen deshalb oft eine systemische Methodik ein, weil dadurch mehrere Perspektiven möglich sind. Wenn sich eine Beziehung wie ein verknoteter Knäuel anfühlt, geht es in der Beratung darum, diesen Knäuel zu lockern. Dann werden die einzelnen Stränge wieder erkennbar und reflektierbar.» 

Scham, Schuld, Angst
In der Beratung kommen regelmässig klassische psychologische Themen wie Scham, Schuld oder Angst vor. «Es kann auch sein, dass unser beharrliches Nachfragen Widerstände auslöst – und dann kann die Frage sein: Um was geht es dabei, was steckt hinter dem Widerstand?», sagt Menges. Religion kann ebenfalls Thema sein, etwa bei der Frage, ob gemeinsames Beten eine Ressource sei. Oder wenn im Blick auf die Familiengeschichte der enge und starre Glaube von Eltern oder Grosseltern weiter als Stimme in jemandem lebt.

Gibt es spannende oder «schöne» Fallbeispiele aus der Praxis der Therapeuten? «Diese zu erzählen, würde unter ‹nosey› laufen», antworten sie lächelnd. Eine schöne Erfahrung sei, wenn eine Weihnachtskarte mit dem Dank für das «Dasein» im vergangenen Jahr im Briefkasten liege. Oder auch, wenn plötzlich eine Hochzeitsanzeige von einem Paar, das in der Beratung war, kommt.

Beratung ist «normal» geworden
Die soziale Herkunft der Klienten ist breit gefächert. Auch homosexuelle Paare gehören dazu, wie es der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht. «In den 2010er-Jahren ist es normal geworden, dass man sich bei Konflikten und Verunsicherungen in einer Beziehung beraten lässt. Das ist eine gute Entwicklung», sagt Menges. Die kirchliche Trägerschaft ermögliche, dass Menschen mit geringerem Einkommen sich eine solche Beratung leisten können. «Die Stelle ist damit auch ein diakonisches Angebot.» Und: «Auch wenn wir eine kirchliche Stelle sind, geht es nicht um das Zusammenbleiben um jeden Preis. Eine gute Trennung kann auch ein Ziel sein.» 

 

Text | Fotos: Daniel Klingenberg, St. Gallen  – Kirchenbote SG, Februar 2019

 

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