Den Feind zu Tisch bitten
Essen und Trinken verbinden die wenigsten Menschen mit den reformierten Christen, eher mit Katholiken, vielleicht gerade noch mit Lutheranern. Immerhin hat Luther gerne gegessen und getrunken, hat Tischreden geschwungen und so manchen Spruch zum Besten gegeben. Dagegen wirken Reformierte geradezu dröge und langweilig. Dabei startete die Zürcher Reformation mit einem Wurstessen, in dessen Folge Zwingli seine Schrift «Von Erkiesen und Fryheit der Spysen» verfasste. Unsere Schriftbezogenheit macht uns im Kern aus, und die Schrift lehrt, dass wir sinnlich und lustvoll mit dem Thema «Essen und Trinken» umgehen können.
Jesus sorgte für weinNachschub
Immerhin geschieht die erste Zeichenhandlung Jesu bei einer Hochzeit. Ausgerechnet der Nachschub von Wein wird von ihm sichergestellt (Joh 2), obwohl auf dem Fest wahrscheinlich schon genug getrunken wurde. Jesus setzt vor seinem Tod das Abendmahl ein und nach seiner Auferstehung gibt es eine Grillade mit Fisch am See (Joh 21). Und auch sonst ist die Bibel voll von Geschichten rund um das Thema «Essen und Trinken».
Betrunken und nackt im Zelt
Der Wein soll das Herz des Menschen erfreuen (Ps 104) und bei Genuss in kleinen Mengen sogar der Gesundheit förderlich sein (Tim 5). Wobei der Konsum nicht ausufern sollte. Das lehrt uns die Geschichte Noahs, der sich als erster Weinbauer der Menschheit derart betrunken hatte, dass er nackt im Zelt lag und seine Söhne sich für ihn schämten. (Gen 9)
Genuss statt Konsum
Es geht um Genuss – nicht um Konsum. Das können wir mit Blick auf die Bibel lernen. Das zeichnet auch die Gemeinschaft aus, in der man miteinander isst und trinkt. Denn mit einem Feind kann ich nicht gemeinsam geniessen, einem Gegner nicht den Wein reichen oder mit ihm das Brot brechen. Das kann nur in einer Gemeinschaft geschehen, in der Frieden und Gerechtigkeit herrschen.
Anbruch des Gottesreiches
Möglich ist das in einer Gemeinschaft, in der wir alle an einen Tisch geladen sind. Und so ist der gemeinsame Genuss an einer schön gedeckten Tafel ein Bild des anbrechenden Gottesreiches unter uns. Das geschieht vor allem beim Abendmahl, aber auch sonst, wo wir als Schwestern und Brüder zusammenkommen, essen und trinken und uns über das geschenkte Leben freuen.
Text: Ute Latuski-Ramm, Pfarrerin, Degersheim | Foto: Martin Böhringer – Kirchenbote SG, Februar 2020
Den Feind zu Tisch bitten