Der Axthieb - So muss es gewesen sein!
Vor vielen Jahren lebte in China ein Mann, nennen wir ihn Fung Li. Da der Winter sich näherte, machte er sich daran, in seinem Schuppen Holz zu hacken, um damit in den kalten Tagen sein Häuschen zu heizen.
Tag für Tag geht er hinüber in seinen Schuppen und hackt Holz. Sein ganzer Stolz bei dieser Arbeit ist seine Axt. Gute Äxte sind selten und seine Axt ist hervorragend. Sie fährt durch die Holzblöcke wie durch Butter und macht aus diesen im Handumdrehen handliche Scheiter für den Ofen.
Fung Li schichtet die Scheiter im Schuppen zu Stapeln auf und ist täglich mit seiner Arbeit zufrieden. Die Tage werden tatsächlich immer kälter und bereits hat sich am Morgen der erste Frost auf das Land gelegt. Höchste Zeit, alle Holzblöcke zu zerkleinern, um warm durch den ganzen Winter zu kommen. Fung Li macht sich jedoch keine grossen Sorgen. Dank der hervorragenden Axt würde er wohl alles Holz zu Scheitern verarbeitet haben, bevor die lange Kälte kommen würde.
Fung Li unterbricht täglich seine Arbeit, um sich einen heissen Tee zu gönnen. Als er nach einer der täglichen Teepausen in den Schuppen zurückkehrt, liegt die Axt nicht auf dem Scheitstock, wo sie immer liegt, wenn er den Schuppen verlässt. Er lässt seinen Blick ruhig durch den Schuppen schweifen, doch er kann die Axt nirgends entdecken. Er beginnt im zunehmenden Abenddunkel den Schuppen abzuschreiten, nirgends steht oder liegt seine geliebte Axt. Er schläft schlecht in dieser Nacht und steht bereits früh am Morgen auf, um die Axt zu suchen. Er geht um das Haus, er geht in den Hühnerstall, nirgends entdeckt er die Axt. Er geht zurück ins Haus, steigt in den Keller, klettert in den Estrich – keine Axt.
Als Fung Li zerknirscht wieder aus dem Haus tritt, geht gerade sein Nachbar Lo vorbei. Doch Lo’s Blick richtet sich nicht auf Fung Li und auch der sonst übliche Gruss ist nicht zu hören. Fung Li schaut ihm erstaunt nach. Da schleicht sich ein Gedanke in seinen Kopf. Seltsam dieses Verhalten von Nachbar Lo.
Dieses absonderliche Verhalten kann kein Zufall sein. Es ist wohl das schlechte Gewissen, das diesen Lo den Blick zu mir vermeiden lässt und auch auf den üblichen Gruss verzichtet. Fung Li erscheint, je länger er über die Sache nachdenkt, der Fall klar. Lo hat etwas mit dem Verschwinden der Axt zu tun. Lo weiss, wo meine Axt ist. Lo ist ein Axtdieb. Und tatsächlich auch am folgenden Tag geht Lo verdächtig rasch an Fun Li’s Haus vorbei und vermeidet den Blickkontakt. So verhalten sich nur Leute, die etwas zu verbergen haben, Leute, die etwas gestohlen haben. Es ist eindeutig, Lo ist der Axtdieb.
Die Zeit wird knapp. Knapp wird heute jedoch auch das Holz für den Herd, damit der Tee aufgesetzt werden kann. Fung Li verlässt sein Haus und geht hinüber zum Schuppen. Gleich neben dem Eingang hebt er einige noch nicht aufgeschichtete Scheite auf und entdeckt darunter die Axt. Seine Axt. Hoh! schreit er und hebt die Axt erfreut auf. Da bist du ja. Da sind wohl ein paar Scheiter vom Stapel gefallen und haben dich umgerissen und zugedeckt, als ich vorgestern mal schnell nach meinem Tee sehen musste und dich rasch beim Eingang an den Stapel gestellt habe.
Apropos Tee, den gönne ich mir jetzt, den habe ich mir verdient. Bevor Fung Li den Schuppen verlässt, legt er die Axt mit Bedacht auf den Scheitstock. Auf dem Weg zum Haus sieht er seinen Nachbarn Lo. Er winkt ihm freundlich. Lo winkt zurück und fragt, weshalb er heute so heiter wirke. Ach, ich habe meine Axt verlegt und sie gerade eben wieder gefunden. Das freut mich sehr. Das freut mich auch für dich sagt Lo, doch ich muss weiter, ich erwarte seit einigen Tagen Besuch und bin etwas aufgeregt, weil ich nicht weiss, ob ich alle Vorbereitungen getroffen habe. Ach, das wird sicher alles seine Richtigkeit haben, sagt Fun Li. Er winkt Lo zum Abschied und wundert sich, wie er bloss auf die Idee kommen konnte, dass sein Nachbar Lo ein Axtdieb ist.
Der Axthieb - So muss es gewesen sein!