Der Königin der Instrumente verfallen

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25.10.2021
Früher Fossilien, heute Orgeln: Wie Marco Brandazza durch Zufall dazu kam, Orgeln zu erforschen. Und was die Faszination dieses Instruments ausmacht.

Wenn Marco Brandazza, 61, von Orgeln spricht, beginnen seine Augen zu leuchten. Dann sagt er Dinge wie: «Jede Orgel ist anders, jede Zeit, jede Region hatte ganz andere Instrumente.» Oder: «Diese Vielfalt gibt es bei keinem anderen Instrument.» Dabei war es nur ein Zufall, eine Laune des Schicksals, die ihn zur Arbeit mit der Königin der Instrumente gebracht hat. Marco Brandazza, Italiener, in der Nähe von Mailand aufgewachsen, hatte als Kind den Wunsch, «Dinosaurier zu studieren». Nachdem er in Mailand Geologie studiert und in Paläontologie doktoriert hatte, war er auf bestem Weg, seinen Lebensplan umzusetzen. Doch dann besuchte er, gerade 27, eine Ausgrabungsstätte zwischen Genua und Frankreich. Dort lernte er Eva kennen, eine Stadtzürcherin, die perfekt italienisch sprach, ihm sofort ins Auge fiel und mit ihren Eltern in Italien Urlaub machte.

Zweitstudium mit 27 Jahren
Die Sache mit Eva wurde schnell ernst. Doch Eva wollte nicht nach Italien ziehen. «Welche beruflichen Chancen hätte eine Schweizerin vor 30 Jahren in Italien auch gehabt?», sagt Brandazza. «Stattdessen überzeugte sie mich, nach Luzern zu ziehen und dort Kirchenmusik und Orgel zu studieren.» Eine Idee, die er für gut befand. Eva studierte ebenfalls dort, und ein Faible für Orgeln hatte er auch. Als Ministrant durfte er früher ab und zu auf der heimischen Kirchenorgel spielen. Zu Hause stand eine Pfeifenorgel, zum Üben. Diese hatte er zusammen mit seinem Vater gebaut, der Dorfarzt war und Interesse an Handwerk hatte. «Schon damals fand ich die technische Seite einer Orgel überaus spannend», sagt Brandazza, in dessen Familie niemand musikalisch war. Mit 27 Jahren also zog er nach Luzern. Dort begann er erneut ein Studium, das neun Jahre dauern sollte. Harmonie, Dirigieren, Liturgiegesang, Gregorianik, Altes und Neues Testament sowie Orgelbaukunde standen fortan an der Tagesordnung. Dass der Dozent nur in Schwyzerdütsch sprach und er kein Wort Deutsch konnte, machte die Situation nicht einfacher.

Doch das sei lange her, sagt Brandazza. 34 Jahre später sind Eva – seit 1998 Organistin der Reformierten Kirchgemeinde Emmen-Rothenburg – und Marco ein eingespieltes Team mit zwei erwachsenen Kindern, 26 und 22 Jahre alt. Sie spielen gemeinsam Orgel, «vierhändig und vierfüssig», wie er es nennt. Im Orgeldokumentationszentrum unterstützt ihn seine Frau, macht Übersetzungen für ihn, archiviert Dokumente. Finanziert wird das Orgeldokumentationszentrum von der Hochschule Luzern. Die Kantone, die eine Inventarisierung in Auftrag geben, zahlen ebenfalls mit. «Gerade Denkmalämter haben heute ein grosses Interesse daran, Orgeln als Kunstdenkmäler und Kunstschätze zu inventarisieren», sagt Marco Brandazza.

Aufwendige Nachforschungen
Bisher wurden die Orgeln der Kantone Zug, Schwyz und Luzern inventarisiert. Derzeit ist Brandazza daran, die Orgeln im Kanton Uri zu inventarisieren. Wird von einem Kanton ein Auftrag vergeben, wird jede Orgel technisch vor Ort untersucht. Es werden zahlreiche Archive durchforstet, um die Geschichte der einzelnen Instrumente zu belegen. Oftmals sind die Unterlagen unvollständig, von Hand und in alter Schrift verfasst. Zu Tage kommen immer wieder spannende Geschichten aus der Vergangenheit. In Lachen SZ beispielsweise hatte man 1860 den teuersten Orgelbauer der damaligen Zeit in Europa angeheuert, den Deutschen Eberhard Friedrich Walcker. 5000 Franken sollte die Orgel kosten, die in Auftrag gegeben wurde. Schlussendlich kostete sie 17'000 Franken. Für eine Gemeinde mit 2000 Einwohnern eine enorme Summe.

Die Dokumentendurchsicht zeigte, dass die Orgel viel grösser und komplizierter gebaut worden war, als sie ursprünglich in Auftrag gegeben wurde. «Es dürfte nicht einfach gewesen sein, diese Orgel zu finanzieren», so Brandazza. Denn bereits für eine mittelgrosse Orgel konnte es zwanzig Jahre dauern, bis das Geld dafür aufgetrieben war. Man bettelte von Tür zu Tür, erhöhte die Steuern, nahm Kredite bei den Banken auf oder erhielt bestenfalls eine Schenkung, wenn jemand starb.

500 Orgeln dokumentiert
500 Orgeln wurden mittlerweile erfasst. Rund 95 Prozent der Orgeln, die im Kanton Luzern dokumentiert wurden, stehen in katholischen Kirchen, die restlichen fünf Prozent in reformierten. «Die reformierten Orgeln können sich durchaus sehen lassen», so Brandazza. «Gerade die Matthäus- und die Lukas-Kirche besitzen in Relation zur Grösse der Kirche grosse Orgeln.» Gebaut wurden diese Orgeln vorwiegend von heimischen Orgelbauern, von denen es heute noch fünf grössere Unternehmen gibt, neben zahlreichen Einmannbetrieben.

Lustiges Detail am Rande: Die konfessionelle Grenze war früher in den Köpfen der Menschen stark präsent. Dennoch kam es vor, dass ein reformierter Orgelbauer eine katholische Kirche ausstattete und umgekehrt. Der reformierte Friedrich Goll aus Luzern etwa baute die Orgel für das Kloster Engelberg. Johann Nepomuk Kuhn hingegen, ein Katholik aus Deutschland, baute die Orgel für das Grossmünster in Zürich. Diaspora hin oder her.

Carmen Schirm-Gasser, kirchenbote-online

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