Der Pfarrberuf der Zukunft
Die reformierte Kirche in der Schweiz steht an einem Wendepunkt. Die gesellschaftlichen Veränderungen, der demographische Wandel und die religionssoziologische Empirie lassen den Schluss zu, dass sich die Kirchen in einer «Metamorphose» befinden. Diesen Begriff verwendet Christian Grethlein – ein Theologieprofessor in Deutschland – um zu betonen, dass es nicht bloss um ein paar kleine Veränderungen geht. Will die Kirche relevant bleiben, muss sie sich wandeln.
Gesellschaft verändert sich
Es ist gar nicht so einfach, diese Veränderung wahrzunehmen. Denn in vielen Kirchgemeinden gibt es nach wie vor ein «lebendiges» Gemeindeleben. Aber in der Gesellschaft sind dennoch Verschiebungen im Gange. Das Modell der Sinus-Milieus bietet eine soziologische Brille, um einen Einblick zu bekommen. Diese Landkarte der Milieus zeigt, dass die reformierte Kirche derzeit vor allem traditionellere Milieus gut erreicht. Jüngere Milieus hingegen bleiben zunehmend ohne jeden Kontakt. Untersuchungen zeigen auch, wie sich das Verhältnis der Menschen zu Kirche und Glaube in den letzten Jahren grundlegend verändert hat. Die kirchlichen Trauungen sind zum Beispiel im Vergleich mit den Zahlen in den siebziger Jahren völlig zusammengebrochen. Interessant sind Daten, welche diese Entwicklung auf Alterskohorten aufschlüsseln. Sie zeigen, dass jede neue Generation kirchlich noch distanzierter ist, weniger betet, weniger an Gott glaubt, kaum mehr weiss, was die reformierte Kirche ist.
Auf diese Veränderungen reagiert die reformierte Kirche auf vielfältige Weise. So arbeiten schon jetzt viele kirchlichen Berufsleute und Freiwillige ganz anders als noch vor wenigen Jahren. In verschiedenen Reformprojekten werden in Kantonalkirchen angepasste Strukturen – regionale Kooperationen von Kirchgemeinden oder Fusionen, interprofessionelle Zusammenarbeit und der Einbezug von ehrenamtlich Professionellen – entwickelt und umgesetzt.
Kompetenzorientierte Pfarr-Ausbildung
Auch die Pfarr-Ausbildung muss auf diese Veränderung reagieren. Denn mit der momentanen Ausbildung können genau die Resultate erzielt werden, die im Moment erzielt werden. Und die sind gut. Aber: Genügt das für die Zukunft? Ein Rückgriff auf vergangene Erfahrungen genügt möglicherweise nicht mehr.
Deshalb wurde in den letzten Jahren im Ausbildungskonkordat für den Pfarrberuf – dazu gehören 19 Landeskirchen, darunter auch die Landeskirche beider Appenzell – ein neues Curriculum entwickelt. Zu Beginn dieses Prozesses stand eine Analyse der beschriebenen Veränderungen. Welche Herausforderungen stellen sich der Kirche und dem Pfarrberuf aufgrund der Diagnose der gesellschaftlichen Entwicklung? Und wie sieht die Kirche der Zukunft aus? Wie werden Pfarrerinnen und Pfarrer von morgen arbeiten?
Aufgrund dieser Analyse wurde im Gespräch mit Pfarrerinnen und Pfarrern und mit den Kirchenleitungen der Mitgliedkirchen ein Kompetenzstrukturmodell für den Pfarrberuf entwickelt. Es ist ein Zielbild für den Beruf, das die künftigen Anforderungen und Kompetenzen antizipiert.
Was ist der Vorteil, wenn die Ausbildung für die Zukunft kompetenzorientiert erfolgt? Pfarrerinnen und Pfarrer der Zukunft können nicht mehr nach Standardabläufen arbeiten, die sie einmal eingeübt haben. Das Ziel der Ausbildung ist heute ein anderes, wenn es für die Zukunft taugen soll: «Am Ende der Ausbildung stehen Persönlichkeiten, die sich in offenen, unüberschaubaren, komplexen und dynamischen Situationen selbst organisiert und kreativ zurechtfinden und für noch nie dagewesene Probleme Lösungen finden.»
Ein einziges Pfarrbild wird es in Zukunft nicht mehr geben. Jede Kirchgemeinde ist anders. Ob ich im Kanton Graubünden in einem Bergdorf Pfarrer bin, ist fundamental anders, als wenn ich in der Stadt Basel in einer frisch fusionierten Kirchgemeinde mit sieben Kolleginnen und Kollegen arbeite. In den Blick kommt also eine Kompetenz, die in unterschiedlichen Orten die theologische Reflexion zur Anwendung bringen kann.
Diese Formulierung des Lernziels hat einen zweiten Vorteil: Es heisst auch, dass unterschiedliche Menschen in diesem Beruf am richtigen Ort sind. Nicht jeder und jede passt an jeden Ort. Aber für jeden Ort gibt es eine Person, die passend ist. In Zukunft wird es deshalb wichtig, dass sich eine Kirchgemeinde darüber bewusst wird, welche Pfarrperson sie vor Ort will und braucht.
Allround-Inserate führen nicht zum Erfolg
Besonders wichtig wird dies auch, weil die Reformierte Kirche auf eine zehnjährige Phase zusteuert, in der die Pfarrerinnen und Pfarrer «Mangelware» sind. In diesen Jahren werden in der Deutschschweiz jährlich 40 bis 90 Pfarrpersonen pensioniert, während gleichzeitig jedes Jahr nur 20 bis 25 «auf den Markt» kommen. Nur Kirchgemeinden, die ihre Hausaufgaben machen, werden noch eine Pfarrperson finden. Allround-Inserate, die eine eierlegende Wollmilchsau suchen, werden kaum mehr erfolgreich sein. Nur wenn junge Pfarrerinnen und Pfarrer im Inserat und im Bewerbungsgespräch spüren, dass genau sie gesucht sind – und nicht irgendeine Pfarrperson – wird ihr Interesse geweckt sein.
Eine Ausschreibung, die präzis sagt, was gesucht ist, und die zum Ausdruck bringt, dass ein Bewusstsein über den Kontext vor Ort, über die bereits vorhandenen Kompetenzen im Team und über die strategischen Weiterentwicklungsziele vorhanden ist, ist attraktiv. Gesucht sind auch Stellen, die den kommenden Pfarrerinnen und Pfarrern den Spielraum für Innovation und Entwicklung bieten. Wenn alles so bleiben soll, wie es bekannt ist, dann ist die Stelle kaum attraktiv. Wichtig aber: ein Inserat, das viel Gestaltungsspielraum verspricht, darf keine Mogelpackung sein. Die Kirchgemeinde muss sich im Vorfeld einer Stellenausschreibung überlegen, wo der neuen Pfarrperson der Freiraum (auch zeitlich) gegeben wird, um Neues auszuprobieren, experimentelle Formen von Kirche zu wagen, alte Zöpfe abzuschneiden und neuem Wachstum eine Chance zu geben.
Weitere Faktoren, die von den Vikarinnen und Vikaren – die angehenden Pfarrpersonen – genannt werden, sind auch eine gute Kirchgemeinde-Kultur ohne Konflikte. Viele haben eine Partnerin oder einen Partner mit Arbeitsstellen in urbanen Zentren. So spielt die Erreichbarkeit eine Rolle, manchmal ist es auch attraktiv, wenn die Wohnsitzpflicht je nach Lebensphase angepasst werden kann. Und schliesslich sagen die Vikarinnen und Vikare, dass sie auf eine Passung beim theologischen Profil achten. All dies kann schon im Stelleninserat sichtbar werden, sind aber auch wichtige Themen für die Bewerbungsgespräche. Das Kompetenzstrukturmodell bietet auch für Pfarrwahlkommissionen wichtige Elemente, um sich über diese Faktoren Gedanken zu machen.
Zurück zum Kern
Mit dem neuen Kompetenzstrukturmodell ist aber nicht nur signalisiert, dass in diesem Beruf unterschiedliche Menschen an verschiedenen Orten in den Einsatz kommen können. Es gibt auch inhaltliche Anforderungen, die auf die zukünftige Form von Kirche ausgerichtet sind. So lernen die aktuellen Vikarinnen und Vikare neue, experimentelle Formen von Kirche zu entwickeln. Sie erhalten eine Grundausbildung in bedarfsorientierter, sozialräumlicher Arbeitsweise. Und sie werden ausgebildet, die Frage der künftigen Entwicklung einer Kirchgemeinde theologisch zu reflektieren und daraus an den strategischen Prozessen – gemeinsam mit den Kirchenbehörden auf lokaler Ebene und den weiteren Mitarbeitenden – mitzuwirken.
Der Wandel, der sich auch für den Pfarrberuf abzeichnet, ist kein Verlust. Im Gegenteil. Vielleicht kommt der Pfarrberuf in der radikalen Metamorphose, vor der die reformierte Kirche steht, wieder zurück zum Kern. Auf einer Studienreise in Schottland, zu der die Vikarinnen und Vikare regelmässig aufbrechen, hat ein erfahrener Pfarrer mit Blick auf die Zukunft gesagt: «People before dogma!», das sei sein Rat an die jüngere Generation. Menschen ins Zentrum der pfarrberuflichen Arbeit stellen. Das ist keine schlechte Ausgangslage für die Zukunft.
Pfarrwahlkommissionen finden ein Instrument für die Erstellung von Stelleninseraten und für das Führen von Bewerbungsgesprächen auf der Webseite von Bildungkirche.ch.
Der Pfarrberuf der Zukunft