«Der vergessene grüne Smaragd»

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08.04.2020
Vor Kurzem meldeten die Medien, dass das Architektenbüro Herzog & de Meuron in Andeer die erste Autobahnkirche der Schweiz errichtet. Falsch, die erste Autobahnkirche steht in Erstfeld. Ein Besuch nach dem Corona-Lockdown lohnt sich.

Millionen fahren jeden Tag an ihr vorbei auf dem Weg ins Tessin. An der Autobahnkirche, einen Steinwurf von der Raststätte Gotthard entfernt. Doch die wenigsten haben sie je besucht, denn der Betonbau mit den grossen Fensterreihen liegt unscheinbar hinter einer Hundeversäuberungswiese.

Einer, der es regelmässig tut, ist der «Magazin»-Reporter Max Küng. Eigentlich, schreibt er, fahre er über den San Bernardino. Im Winter entscheide er sich für die Gotthardstrecke. Dann sei es der Gedenkraum, weswegen er jedes Mal halte. Als er den Raum einem Freund zeigte, war dieser ba und sagte: «Besser als Ronchamp.» In der Tat: Die Autobahnkirche, welche die Zürcher Architekten Guignard-Saner im Jahr 2002 errichteten, ist beeindruckend. 1996 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, 400 Projektideen gehen ein ein.

Eine alte Tradition
Autobahnkirchen greifen auf eine alte Tradition zurück. Bereits im Mittelalter säumten Wegkapellen und Wegkreuze die Routen, die über die furchteinflössenden Alpenpässe führten. Beim Bau der Gotthard-Autobahn war für den Bundesrat und die Kantonsregierung klar, dass an dieser Strecke eine solche Kirche stehen sollte. Es sollte ein überkonfessioneller Ort werden, in dem die Reisenden einkehren, um für einen kurzen Augenblick zur Ruhe zu kommen und sich zu besinnen.

Die karge und klare Architektur erinnert nicht an ein Gotteshaus, eher an einen Bunker. Im Vorhof steht ein langgezogener Brunnen. Auf der Wasseroberfläche spiegelt sich ein winziges Stück Himmel. Kies, Beton und Wasser erinnern an japanische Gärten und Zen. Einzig die Schrifttafeln der beiden Basler Künstlerinnen Clara Saner und Selma Weber mit Sätzen aus den fünf Weltreligionen laden ein, über Gott und die Welt nachzudenken.

Magisches Licht
Tritt man in die Kirche ein, so ändert sich der Eindruck schlagartig. Geheimnisvoll bricht sich das Licht in den gebrochenen Glasscherben der Fenster. Das smaragdgrüne Licht erweckt den Eindruck, als betrete man eine feuchte Höhle, an der dichtes Moos wuchert. An hellen Sommertagen funkelt es magisch in allen Grüntönen, als sitze man in einem Edelstein. Nachts geschieht das Umgekehrte: Da strahlt das Licht der tief hängenden Deckenleuchten durch die quadratischen Fenster hinaus in die Dunkelheit. Der Kubus wird zu einem spirituellen Leuchtturm für all jene, die auf der Autobahn in den Süden rasen.

Im Zentrum ein Bergkristall
In der Mitte der Autobahnkirche ruht ein mächtiger Bergkristall etwas verloren in einer Vitrine. Es scheint, als hätten ihn die Zwerge aus einer Kluft herausgebrochen, in der er während Millionen Jahren vor sich hinschlummerte, um ihn hier im Betonkubus einzusperren. Oder als hätte ihn der ehemalige Bundesrat Adolf Ogi, der gerne ausländische Gäste mit Bergkristallen überraschte, hier vergessen, während er in der nahen Raststätte auf die Älplermagronen wartete.

Max Küng, so schreibt er, sitzt dann jeweils eine Weile in dem Gedenkraum der Autobahnkirche auf einem Bänklein und staunt. Dann fährt er weiter.

Tilmann Zuber, April 2020

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