Dialogfreudig und die «gute Seele»

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21.04.2022
Der St. Galler Rabbiner Tovia Ben-Chorin (1936 –2022) bewegte sich zwischen Kontinenten und Religionen. Die Trauer über den Tod des 86-Jährigen ist über die jüdische Gemeinde St. Gallen hinaus gross.

Tovia Ben-Chorin wurde 1936 in Jerusalem geboren. Seine Eltern waren laut «NZZ am Sonntag» ein Jahr zuvor aus Deutschland geflohen. Tovias Vater, Fritz Rosenthal, nannte sich fortan Schalom Ben-Chorin. Zu Hause bei Tovia Ben-Chorin gingen deutschsprachige Emigranten wie Max Brod, Else Lasker-Schüler oder Martin Buber ein und aus. Später, nach dem Studium der Bibel und der jüdischen Geschichte in Jerusalem, lernte Tovia Ben-Chorin in England das liberale Judentum kennen und wirkte als Rabbiner in verschiedenen Gemeinden Europas und in Israel. 2015 kam er nach St. Gallen. Seine emotionale Religiosität und seine Offenheit allen Menschen gegenüber ermöglichten ihm den Zugang zu weiten Kreisen, heisst es in der Todesanzeige der jüdischen Gemeinde. 

Interreligiöser Dialog

Am Herzen lag Ben-Chorin der interreligiöse Austausch, den er mit Begeisterung pflegte. Auch war es ihm stets ein Anliegen, die universalen Seiten der jüdischen Religion aufzuzeigen und im Gespräch zu betonen. Tovia Ben-Chorin war langjähriges Vorstandsmitglied des Runden Tisches der Religionen in St. Gallen und zweifellos die «gute Seele» im interreligiösen Dialog in St. Gallen. «In Tovia Ben-Chorin trat uns ein liberaler Rabbiner entgegen, der mit Charme, Witz, Temperament, Aufmerksamkeit, Freundlichkeit, Gastfreundschaft, einem ungeheuren Wissen und grosser Sensibilität auch für die schwierigen Seiten im interreligiösen Dialog die Menschen inspirierte. Schulkindern in St. Gallen hat er die Synagoge gezeigt, Anlässe mit Anekdoten unvergesslich gemacht, beim Bettag mit dem Schofar den Klosterplatz beschallt, beim islamischen Fastenbrechen Iftar alle Anwesenden gesegnet», heisst es im Schreiben des Vorstandes des Runden Tisches. 

Leitsätze Martin Bubers

Trotz hohen Alters lagen Tovia Ben-Chorin die Durchführung der jüdischen Gottesdienste und die Teilnahme an interreligiösen Veranstaltungen so sehr am Herzen, dass er sich über Länder- und Zeitgrenzen hinweg mit der Zoom-Übertragung vertraut machte. Bis kurz vor seinem Tod nahm er digital an Sitzungen teil. Den nichtjüdischen Freunden und Freundinnen hat er die Lektüre des Religionsphilosophen Martin Buber ans Herz gelegt: Dessen Leitsätze «Am Du werden wir erst zum Ich» oder «Der fruchtbarste Augenblick ist jener, in dem man als Lehrender lernt» – das hat Tovia Ben Chorin immer gelebt. Tovia Ben-Chorin findet seine letzte Ruhestätte in Jerusalem.

Text: Katharina Meier | Foto: zVg – Kirchenbote SG, Mai 2022

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