Die Aktion «Stolpersteine» kommt in die Schweizer Städte
Sie blinken in der Wintersonne goldfarben auf dem grauen Pflaster. Die in Zürich gesetzten «Stolpersteine» aus Messing erzählen keine glänzenden Weihnachtsgeschichten, sondern holen die Betrachter zurück in die dunkle Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die zehn auf zehn Zentimeter grossen, im Boden eingelassenen Gedenktafeln erinnern an das Schicksal von Schweizer Juden und anderen Menschen, die vor 75 Jahren in deutschen Konzentrationslagern ermordet oder gefoltert wurden.
Den ersten Stein in Zürich setzte anfangs dieses Winters der Verein Stolpersteine Schweiz vor dem ehemaligen Haus von Lea Bernheim. Sie wird 1915 als Kind einer jüdischen Auslandschweizer-Familie in Buenos Aires geboren. Zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder kehrt sie später nach Zürich zurück und wohnt an der Clausiusstrasse 39. Als sie den Franzosen Ernst Berr heiratet und nach Frankreich zieht, verliert sie ihre schweizerische Staatsbürgerschaft. Im Jahr 1942 kommt der gemeinsame Sohn Alain zur Welt. Knapp zwei Jahre später, am 28. Februar 1944, verhaftet die Gestapo die ganze Familie und deportiert sie nach Auschwitz. Die französischen Behörden setzten das Todesdatum von Lea Berr und Alain auf Grund der vorhandenen Hinweise administrativ auf den 1. Februar 1945 fest.
Die vergessenen Opfer
Lea Berr steht exemplarisch für Juden, Sinti, Homosexuelle, Behinderte und Politische, die im zweiten Weltkrieg von den Schweizern den Nationalsozialisten überlassen wurden und in einem KZ inhaftiert waren. Mindestens vierhundert Schweizerinnen und Schweizer und weitere dreihundert in der Schweiz geborene und aufgewachsene Personen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft waren davon betroffen. 2019 erschien das Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge: vergessene Opfer des Dritten Reichs», in dem erstmals eine Liste dieser Opfer veröffentlicht wurde. «Selbst geschichtlich Interessierte wissen nicht, dass die Schweiz nicht nur Juden rettete, sondern auch eigene und ehemalige Staatsbürger den Nationalsozialisten überliess und teilweise sogar mit ihnen kooperierte», erklärt Roland Diethelm, Vorstandsmitglied des Vereins Stolpersteine Schweiz.
Die Idee der Stolpersteine ist indes nicht neu: In Deutschland und 25 weiteren europäischen Ländern wurden bereits 80'000 Steine verlegt. Initiiert hatte die Mahnmale der deutsche Künstler Gunter Deming schon 1992. Vor der aktuellen Steinsetzung in Zürich gab es in der Schweiz erst drei Stolpersteine in und bei Kreuzlingen. «Natürlich war die Rolle der Schweiz im Holocaust nicht vergleichbar mit Deutschland», sagt Roland Diethelm. Er selbst habe keine jüdischen Vorfahren, seine Mutter sei jedoch Deutsche. Das und sein Studium in Berlin habe ihn veranlasst, sich mit dem Holocaust vertieft auseinanderzusetzen. Dass die Schweiz jedoch ihre Rolle der neutralen Aussenperspektive auf den Holocaust überdenke, sei eines der Ziele des Vereins Stolpersteine Schweiz.
An die Grenze gestellt
Auch Homosexuelle wie beispielsweise den Maurerhandlanger Josef Traxl hatte die Polizei im Visier. Traxl war Österreicher, wuchs aber in der Schweiz auf. Die Schweizer Behörden attestieren ihm einen unzüchtigen Lebenswandel. 1925 erhält er einen offiziellen Landesverweis. In der Begründung steht: «Er ist ein unverbesserlicher, arbeitsscheuer Taugenichts, der als Strichjunge ein lasterhaftes Leben führt und sich in ekelhafter Weise den Homosexuellen zur Unzucht hingibt.» Die Schweizer Behörden wollen Traxl 1937 definitiv nach Österreich abschieben, nachdem er mehrmals wieder in die Schweiz zurückgekehrt war. Sie drängen allerdings darauf, ihn dort in einer «geeigneten Anstalt» unterzubringen. Als die österreichischen Behörden dies verweigern, wird er von den Schweizern einfach an die Grenze gestellt. Traxl stirbt 1941 im KZ Buchenwald.
Wenn Diethelm die Anzahl der sechs Millionen umgebrachten Juden hört, wird es für ihn unfassbar. «Eine so hohe Zahl ist schlichtweg unvorstellbar.» Viel konkreter und deshalb berührender seien die Einzelschicksale der Holocaust Opfer. «Genau dort greift die Idee der Stolpersteine.» Die Geschichte werde für den Betrachter durch die Schicksale fassbar. «Nicht im geschützten Raum des Museums, nicht im Unterricht, wo sie leichter vergessen gehen können, sondern unterwartet im Alltag.»
Mit der Geschichte konfrontiert
Die Stolpersteine, die bodeneben eingelassen sind, sollen die Passanten sprichwörtlich zum Stolpern bringen. Stolpern über die Namen, die stichwortartige Lebensgeschichte, das Konzentrationslager und den Todestag der Opfer, die in den Messing eingraviert sind. «Die Betrachter werden so mit der Geschichte von damals konfrontiert, mit Menschen mit alltäglichen Biografien wie den unsrigen, die deportiert und umgebracht wurden.» Jeder Stein erinnere an eine individuelle Lebensgeschichte, die zum Nachdenken anrege, erklärt Diethelm. «Wer mehr wissen will, erhält auf der Homepage des Vereins Stolpersteine Schweiz Zusatzinformationen über die Betroffenen.»
In der Schweiz sollen weitere Steinsetzungen folgen. «Mit jedem Mal bietet sich Angehörigen, Konfirmanden- oder Schulklassen und anderen interessierten Gruppen die Chance, sich mit der Biografie der Opfer und einem Stück Geschichte auseinanderzusetzen», sagt Diethelm. Wie die Stolpersteine die Menschen treffen, hat der Pfarrer in Berlin erlebt. Als er mit einer Konfirmandenklasse in Berlin auf einen Stolperstein stiess, erlebte er, wie jugendliche Unbeschwertheit plötzlich in Betroffenheit und Mitgefühl umschlug. Und die Jugendlichen fingen an, sich für die Geschichte der Ermordeten zu interessieren.
Michael Schäppi, kirchenbote-online
Die Aktion «Stolpersteine» kommt in die Schweizer Städte