Ratgeber Lebensfragen

Die Angst vor den Ängsten

von Tobias Steiger
min
13.04.2024
Viele Paare hüten sich davor, offen über ihre Ängste zu sprechen. Sie meiden diese Themen, da sie befürchten, missverstanden zu werden oder schwach zu erscheinen. Paartherapeut Tobias Steiger erzählt aus seiner Praxis.

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«Ich liebe dich – ich hasse nur deine Ängste»: Viele Paare hüten sich davor, offen über ihre Ängste zu sprechen. Sie meiden diese Themen, da sie befürchten, missverstanden zu werden oder schwach zu erscheinen. Ein ­eindrückliches literarisches Beispiel über den Versuch, die Ängste anzusprechen, findet sich in Daan Heerma van Voss’ Buch:

«Er sagt ihr, er fände es schwierig, sich bei ihr sicher zu fühlen. Bei ihr kommt es als Vorwurf an. Sie glaubt ihm nicht mehr, wenn er ihr sagt, er liebe sie. Er sage dies nur, weil er sie brauche. Ihm kommen Tränen, er ist verzweifelt, weil es ihm nicht gelingt, den Unterschied zwischen Liebe und Panik erfahrbar zu machen. Sie kann seine Angst nicht ganz verstehen. Wenn sie sagt: ‹Ich liebe dich – ich hasse nur deine Ängste», hört er, die Ängste sind nicht erwünscht, also beginnt er sie zu verbannen, er behält sie für sich.»

Angst ist im Leben und in Beziehungen allgegenwärtig. Oft zeigen sich die Ängste in Beziehungen nicht offen, sondern gerade darin, dass Gefühle und Bedürfnisse nach Nähe nicht gezeigt werden können. Partner, die eher ängstlich sind, getrauen sich nicht, sich zu öffnen. Sie reagieren passiv und zurückhaltend – aus Angst vor Zurückweisung, Verlassenwerden oder vor Abhängigkeit. Vieles scheint peinlich, gerade wenn es um Intimität und Bindung geht.

Im Beispiel aus meiner Praxis präsentiert sich die Angst in versteckter Weise, hier geschildert aus der Sicht der Partnerin: «Manuel ist ein toller Mensch, gescheit, lustig, interessiert. Wir konnten viel reden, er schien immer so locker zu sein. Erst sehr viel später erkannte ich, wer er wirklich ist, wie viel er versteckt. Ich spürte seine Gefühle nicht, und er sprach sie nicht an. Ich fühlte mich unbeachtet, unwichtig und wurde zunehmend unglücklicher.»

Paare, die solches erleben, suchen oft unsere Hilfe auf. In der Paartherapie arbeiten wir daran, ein Klima zu schaffen, in dem sich der Partner getrauen kann, über seine Ängs­te – etwa verlassen zu werden – zu sprechen, er muss sich hier nicht länger unverletzlich präsentieren. Wenn er sich so in seinen Angstgefühlen zeigen und erfahren darf, dass er deshalb nicht abgelehnt oder gehasst wird, verändert sich die Dynamik: Er kommt in Kontakt mit ihr und mit seinen Gefühlen. Sie fühlt sich erstmals wichtig und ernst genommen. Und wenn sie ihm das zurückmeldet, fühlt er sich sicherer in der Beziehung.

Daan Heerma van Voss (2023): «Die Sache mit der Angst». Diogenes.
Leslie Greenberg & Rhonda Goldman (2010). «Die Dynamik von Liebe und Macht», vom Umgang mit Angst in der Paartherapie, Seite 329–365

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