Seelsorge in der Hektik des Bahnhofs

Die Bahnhofkirche: im Auge des Orkans

von Tilmann Zuber
min
03.05.2023
Auch wenn die Bahnhofkirche etwas abseits im Zwischengeschoss des Zürcher Hauptbahnhofs liegt, wird sie von vielen besucht. Hier finden sie jemanden zum Reden.

«Haben Sie kurz Zeit für ein Gespräch?», fragt die 50-Jährige die Seelsorgerin Katrin Blome. «Leider nicht, kommen Sie doch später», sagt Blome. Denn die Seelsorgerin hat einen Interviewtermin. Wenig später sitzt sie mit Pfarrer Theo Handschin im Besprechungszimmer der Bahnhofkirche. Die Einrichtung ist spärlich, ein Tisch, vier Stühle und an der Wand leere Harasse. Darin seien die Schokoladenhasen und die Eier gewesen, die nach Ostern an Bedürftige verteilt worden seien, erzählt Handschin. Für die grossen Hasen hat sich noch kein Abnehmer gefunden.

Die Bahnhofkirche gibt es seit über 20 Jahren. Sie befindet sich im Zwischengeschoss des Zürcher Hauptbahnhofs, neben der Bahnhofhilfe, den Toiletten und der Kapelle. «Wir sind im Auge des Orkans», sagt Theo Handschin. Täglich kommen 460'000 Passagiere an und hetzen weiter. Hier in der kleinen Kapelle finden sie eine Oase der Ruhe und die Möglichkeit, mit einem der vier Seelsorgerinnen und Seelsorger zu sprechen.

Viele haben das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, ohne gleich zur Psychologin oder zum Gemeindepfarrer zu gehen.

Das Projekt ist von Anfang an ökumenisch, die Kosten teilen sich die Landeskirchen. Die Bahnhofkirche ist ganzjährig geöffnet. Im Durchschnitt kommen täglich sechs Menschen zu den Seelsorgerinnen und Seelsorgern. «Bei uns muss man sich nicht anmelden, jeder und jede kann spontan vorbeikommen», sagt Katrin Blome. «Man muss nicht Mitglied einer Kirche sein, alles ist anonym, und die Gespräche sind kostenlos.» Es ist ein Ort, der allen offen steht. Egal, ob man zum Beten in die Kapelle gehen oder mit jemandem reden möchte. «Es kann vorkommen, dass Gespräche sehr emotional werden und dass Tränen fliessen. Dafür muss sich hier niemand schämen», so Blome.

Gerade die Niederschwelligkeit macht den Erfolg der Bahnhofskirche aus. Viele hätten das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, ohne gleich zur Psychologin oder zum Gemeindepfarrer zu gehen.

 

Von Liebeskummer bis Jobsuche

Und worüber wird gesprochen? Theo Handschin lacht: «Über alles, Liebeskummer, Probleme am Arbeitsplatz, Arbeitssuche, Migration, gesundheitliche und psychische Probleme, Beziehungsprobleme. Manchmal bitten uns die Besucher, mit ihnen zu beten. Oder wir singen mit ihnen ‹Grosser Gott, wir loben dich›.» Bei schwierigen Problemen vermitteln die Seelsorger und Seelsorgerinnen und Kontakte zu sozialen und psychologischen Einrichtungen. Theo Handschin ist seit sieben Jahren Bahnhofseelsorger, Katrin Blome seit einem halben Jahr. Die Gespräche bezeichnet sie als Geschenk. Man bekomme so viel vom Leben zu hören, es sei beeindruckend, dass sich die Menschen so öffnen.

Auch Muslime kommen hierher, um zu beten.

Die Seelsorge ist das eine Standbein der Bahnhofkirche, das andere ist die Kapelle mit dem interreligiösen Raum der Stille. Bis zu 300 Menschen kehren hier täglich ein. «Auch Muslime kommen hierher, um zu beten», sagt Theo Handschin. Ab 7 Uhr gibt es viermal eine kurze Andacht mit dem Weg-Wort und Segen, um 18.45 Uhr findet das Abendgebet statt.

Das Weg-Wort wird täglich von einem Bahnhofseelsorger geschrieben und ist auch abseits der Morgenandachten sehr beliebt: Rund 600 Abonnenten erhalten es per E-Mail, ausserdem erscheint das Weg-Wort regelmässig im Kirchenboten.

 

Der Wegweiser zur Bahnhofkirche Zürich, unter dem Engel von Niki de St. Phalle

Weg-Wort: Schöne Endlichkeit

Vor zwanzig Jahren wuchs neben der katholischen Kirche von Neuenhof im Aargau ein Japanische-Blütenkirsche-Baum. Damals wirkte ich dort als Seelsorger. Um die Zeit der Erstkommunion stand der Baum jeweils in voller Blüte. Das Bild der Kinder in ihren langen Gewändern unter dem Baum erscheint lebendig vor meinen Augen. Ich realisiere, wie das üppige, rosa leuchtende Blütenmeer dazu beitrug, dass dieser Tag für die Familien ein ganz besonderer wurde. Diese Erinnerung hilft mir, zu verstehen, welch herausragende Bedeutung die Kirschblüten in Japan haben. Dort stehen sie im Mittelpunkt der Frühlingsfeierlichkeiten. Während der Kirschblüte treffen sich die Menschen in Parks und Gärten, um die Blütenpracht zu bewundern und gemeinsam unter den Bäumen zu picknicken und zu feiern. Die Kirsche zeigt ihre Pracht nur wenige Wochen – ein sinnenfälliges Symbol für Schönheit, Anmut und die Vergänglichkeit. Die Kirschblüte bringt auf den Punkt, wie untrennbar Freude und Trauer, Fülle und Loslassen miteinander verbunden sind.Diese zarten rosa Blüten sagen mir: Freue dich über das Schöne, das dir im Leben begegnet! Halte die Augen danach offen, schätze und geniesse diese Momente! Wenn die Zeit gekommen ist, dann lass das Liebgewonnene ohne Bitterkeit gehen! Und lebe in der Gewissheit, dass Gott neue Kirschblüten schenken wird!

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