Die befreiende Fülle des Lebens

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20.05.2019
Mark Schwyter arbeitet in einer abgeriegelten Männerwelt. Er rät, sich nie den Blick auf die eigene Vielfältigkeit versperren zu lassen.

Als Gefängnisseelsorger begleitet Mark Schwyter in der Haftanstalt Lenzburg Männer, die oft nicht nur ihre äussere Freiheit eingebüsst haben, sondern auch innerlich in einer Sackgasse stecken. Zuvor beschäftigte ihn als Männerbeauftragten der reformierten Zürcher Landeskirche, wie und wo Männer im kirchlichen Leben Raum finden. Seine Überzeugung: Uns allen ist ein Leben versprochen, in dem jeder und jede sich jenseits von Rollenerwartungen entfalten darf – unabhängig von Geschlecht, Schicht oder unserer Vergangenheit.

Er zögert, bevor er für ein Gespräch zusagt: Mark Schwyter glaubt nicht, das Mannsein besonders erhellend ergründen zu können. Für ihn hat das Thema auch nicht mehr die frühere Relevanz. Die fast unvermeidlichen Zuspitzungen und Pauschalurteile der «oft endlosen, ohnmächtigen» Geschlechterdiskussion behagten ihm sowieso nie. Als Männerbeauftragter vermisste er zudem das Wirken vor Ort, aus der Begegnung heraus. Dies hatte er an seiner ersten Stelle als Gemeindepfarrer in Schwellbrunn geschätzt.Jetzt, im Gefängnis, hat er wieder einzelne Menschen mit ihren konkreten Themen vor sich. Es sind fast ausnahmslos Männer. 

Männer hinter Gittern 
94 Prozent aller Inhaftierten in der Schweiz sind Männer. Warum? Hormonelle Ursachen und soziale Strukturen sind für Mark Schwyter Erklärungsansätze, aber im Umgang mit den Häftlingen stehen für ihn deren individuelle Lebensgeschichten im Vordergrund. Die Erzählungen gleichen sich jedoch in manchen Punkten: «Fast alle Häftlinge haben ein Vaterproblem.» Die Väter waren nicht präsent, unbekannt, schwierig, Alkoholiker usw. Es fehlte ein positives Vorbild für die in der Pubertät wichtige Frage: Was für ein Mann will ich sein? Viele kämen schon als Jugendliche vom Zuhause weg auf die schiefe Bahn – und früher oder später hinter Gitter.

Der starke Mann und seine Scham
Das Gefängnis: eine rauhe Welt harter Kerle, regiert vom Recht des Stärkeren? Mark Schwyter bestätigt, dass es Hierarchien gibt, oft aufgrund der begangenen Delikte. Gleichzeitig könnten sich die Gefangenen wegen der uniformen Kleidung äusserlich kaum voneinander abheben. Der Kraftraum werde daher zum Ort, wo Mann sich nicht nur fit halte, sondern seinen Körper zum Statussymbol formen könne. Der Druck, als Mann in allen Belangen stark sein zu müssen – er führe nicht selten überhaupt erst in die Kriminalität. So würden viele nicht deshalb straffällig, weil sie sich selbst bereichern wollten, sondern weil sie glaubten, so ihre Rolle als Ernährer erfüllen zu können. Die Erwartungen ihrer oft ahnungslosen Familie enttäuscht zu haben, erwischt worden zu sein, ihre Souveränität verloren zu haben – dafür schämten sich viele. Mark Schwyter meint, dass es gerade Männern schwerfällt, sich dieser Scham und dem eigenen Versagen zu stellen. Bereit sein, wirklich hinzuschauen, sich zu hinterfragen, ganz unten von vorne zu beginnen – das schafften eher wenige. Zu anstrengend, zu bedrohlich, zu entehrend für manches männliche Selbstverständnis.

Das Recht, ein anderer zu werden
Den Seelsorger interessiert, worauf das Selbstbild seines Gegenübers beruht: «Seine Identität als Mann, als Verbrecher, als Opfer usw. – diese Identität hält ihn am Leben. Wird daran zu stark gerüttelt, kann alles zusammenbrechen.» Doch manche Insassen seien froh, wenn man ihnen zugestehe, dass sie mehr seien, als sie selbst, Richter und Gesellschaft bis jetzt in ihnen gesehen hätten.» Mit diesem weiten Blick möchte Schwyter den Häftlingen begegnen. Und er lädt sie ein – hinter Gittern, in der vermeintlichen Sackgasse – selbst die ihnen nach wie vor offenstehende Fülle des Lebens in den Blick zu bekommen. Die Vergangenheit definiere uns nicht abschliessend, es sei nie zu spät, einen neuen Weg zu gehen. Zur christlichen Verheissung gehöre, dass wir alle willkommene Kinder Gottes sind und eingeladen sind, uns zu entfalten. Dies beinhalte, mit der Theologin Dorothee Sölle gesprochen: das Recht, ein anderer zu werden. Schwyter möchte darum zu Fragen anstiften: Wer bin ich? Gefällt mir das? Möchte ich etwas ändern? Was könnte mir helfen? Ihn berührt sehr, wenn ein älterer Häftling zum Schluss kommt: Ich hab’s verbockt, ich sitze im Knast – aber ich will aus diesem Trott heraus, in mir steckt noch anderes, ich habe noch Träume.

Fenster zur Welt und Bote Gottes
Als Gefängnisseelsorger ist Mark Schwyter als Erstes einfach ein Besucher, ein Fenster nach draussen. Viele Sträflinge haben kaum Kontakt zur Aussenwelt, leiden unter der Trennung von der Familie. Sie sind froh um einen Gesprächspartner, der sich für ihren Alltag interessiert. Darüber hinaus sieht Mark Schwyter seine Aufgabe darin, seinem Gegenüber quasi als Bote Gottes zuzusprechen: Gott hat dich nicht verlassen. Durch seine Haltung und mit Worten versuche er deutlich zu machen: Ich glaube an das Gute in dir, sehe in dir nicht nur den Verbrecher, sondern auch den liebenden Vater oder den kleinen Jungen, der du einst warst; ich sehe dich in deiner ganzen Liebenswürdigkeit und Zerbrechlichkeit. Auf diese Weise könne in der zwischenmenschlichen Begegnung auch etwas von Gottes Zusage und Gegenwart aufleuchten. 

«Männern fällt es schwer, sich ihrer Scham und ihrem Versagen zu stellen.»

Zur eigenen Spiritualität finden
Gute Botschaften könne man zwar dem Gegenüber zusprechen. Aber gerade Männer möchten selber wissen und erfahren. Ein für Mark Schwyter sehr wichtiges Anliegen: «Ich möchte anderen helfen, zu ihrer eigenen Spiritualität zu finden. Damit sie die Gewissheit spüren, dass sie nicht alleine auf der Welt sind, sondern begleitet werden.» Gelebte Spiritualität benötige Training wie Muskeln. Wer sich regelmässig öffne für Gottes Gegenwart, könne berührt werden von der Kraft, die das Leben trägt. Die Religionszugehörigkeit sei für seine Begleitung unbedeutend. Auf einer vertieften spirituellen Ebene sei man sich schnell nahe, egal, ob Christ, Moslem, Buddhist, ob man bete, meditiere, eine eigne Mystik entwickle. Wo seine eigenen Möglichkeiten enden, vermittelt Mark Schwyter: Er organisiert ein geweihtes Öl, einen Beichtvater oder einen Imam. 

«Uns ist die Fülle des Lebens verheissen. Wir sind eingeladen, uns zu entfalten.»

Männersache? – Frauensache?
Spirituell spielt für Mark Schwyter das Geschlecht letztlich keine Rolle. Auch nicht mit Blick auf Christus: «Als Vorbild für Männer kann man Jesus nicht brauchen. Wenn schon, dann als exemplarischen Menschen.» Dennoch erlebte er als Gemeindepfarrer in Schwellbrunn und als Männerbeauftragter in Zürich kirchlich unterstützte Männerangebote als positiv und nötig. Gerade Männer fühlten sich in gemischter Gesellschaft in der Minderheit, auch wenn faktisch die Frauen in Unterzahl seien. Solche Gefühle veränderten die Atmosphäre. «In reinen Männergruppen spricht man anders miteinander, es herrscht ein anderer Groove, es bestehen andere Interessen.» Allerdings sei ja keineswegs natur- gegeben, was Männersache, was Frauensache ist: Während etwa bei uns vor allem Frauen Yoga praktizierten, waren es im Ursprungsland Indien lange nur Männer. Im Islam oder im Judentum seien oft öffentlich die Männer als Gläubige präsent, unser landeskirchliches Gemeindeleben hingegen gilt als eher weibliche Sphäre. Und einst galt die Hose als unweiblich, Männer in Röcken sind vielen bis heute suspekt. Wieso eigentlich?

Sich der Fülle des Lebens öffnen
Solche Zuschreibungen und Grenzziehungen engen unser Denken und Handeln ein, etwa, wenn sich Männer nur über ihren Beruf definierten. «Wer glaubt, nur bestimmte Ausschnitte der Fülle leben zu dürfen, schneidet sich immer etwas ab. Oft tun wir dies aus Angst, aus der Rolle zu fallen oder den Platz in der Gesellschaft und die Identität zu verlieren.» Die Gesellschaft, aber auch die Kirche, so Mark Schwyter, sei herausgefordert, um ein Ort für alle Menschen und Gruppen zu sein – etwa für Männer, die ihre Spiritualität leben wollten. Sie könne sensibilisieren für das (noch) Ungewohnte: Männer, die «Fiire mit de Chline» leiten, Kirchenvorsteherinnen in Ressorts wie Liegenschaften und Finanzen usw. Und wir alle sind eingeladen durch diese bestechend einfache, letzten Endes aber radikale Botschaft, die Mark Schwyter weitergibt: Wir dürfen und sollen uns so weit wie möglich entfalten; über reale und mentale Gitterstäbe und Scheuklappen hinweg ist uns allen die Fülle des Lebens versprochen. 

 

Text: Philipp Kamm | Fotos: Niklaus Spoerri  – Kirchenbote SG, Juni-Juli 2019 – Kirchenbote SG, Juni-Juli 2019

 

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