Die beste Lebensschule
Die Zweikampf-Sportart Schwingen, auch «Hoselupf» genannt, wird fast ausschliesslich in der Schweiz ausgeübt und gilt als inoffizieller Nationalsport. Im Appenzellerland fanden bzw. findet in diesem Jahr gleich zwei grosse nationale Anlässe statt: am 18. August trafen sich traditionell beim «Schwägalp-Schwinget»die Besten des Landes und am 8. September findet in Appenzell das infolge Covid verschobene «Jubiläumsschwingfest 125 Jahre ESV» statt. Zwei triftige Gründe, um sich mit Schwingen zu beschäftigen.
Zweikampf ohne Gewichtsklassen
Schwingen zeichnet sich gegenüber anderen Kampfsportarten durch einige Spezialitäten aus. Es gibt keine Gewichtsklassen, gekämpft wird im Sägemehlring. Wurf- und Festhaltetechniken gibt es auch in anderen ähnlichen Sportarten, nicht aber die Zwillich-Überhose mit Ledergürtel. Daran kann sich der Kontrahent festhalten. Einzigartig ist auch die Aufgabe des Einteilungs- und Platzkampfgerichts. Da weder Ranking noch Gewichtsklassen, sondern nur eine Jahreswertung existieren, werden die Paarungen nach jedem Gang eingeteilt. Auf dem Platz leitet der Platzkampfrichter den Wettkampf und setzt die Regeln durch, wobei er sich weder mit den Schwingenden noch mit dem Publikum auf Diskussionen einlässt.
Medienaufmerksamkeit
Auf Abbildungen aus dem 13. Jahrhundert ist der Schwingsport bereits zu finden, schriftliche Quellen weisen ihn ab dem späten 16. Jahrhundert nach. Von der Obrigkeit unterdrückt, zog sich die Sportart auf die Alpen zurück, um im 19. Jahrhundert von Städtern wiederentdeckt zu werden. Als Disziplin des Nationalturnens war Schwingen lange eine landesweit verbreitete Randsportart. 1980 fand das erste Frauenschwingfest statt, 1992 wurde der Eidgenössische Frauenschwingverband gegründet. Seit der Jahrtausendwende erlebte die Sportart verstärkte Medienaufmerksamkeit. Somit wurde das Schwingen schon zum zweiten Mal insbesondere durch die urbane Bevölkerung und in unserer Zeit damit auch durch die Medien entdeckt.
Diskussion über Entscheidungen
Und damit begannen auch die Diskussionen über Entscheidungen, welche von einer Boulevardzeitung noch angeheizt werden. Der Grundsatz, dass sich das Kampfgericht grundsätzlich weder mit den Schwingern noch mit dem Publikum auf Diskussionen einlässt und Entscheidungen ohne Widerspruch akzeptiert werden, wird öfter in Frage gestellt. Dazu meint Eugen Schläpfer: «Das Einteilungsbüro entscheidet gemäss anfangs vermuteter Stärke der Schwingenden. Manchmal ist die Einteilung für den Sportler oder die Sportlerin Glücksache. Das gleicht sich aber aufs Jahr gesehen aus. Entscheide des Kampfrichters werden akzeptiert.»
Mit Niederlagen umgehen können
Naim Fejzaj ist überzeugt, dass er im Schwingen gelernt habe, mit Niederlagen umzugehen. Das Verlieren können und den Umgang damit gelte es auch den Jungschwingenden neben dem Technischen zu lehren. Bei Niederlagen sei zu überlegen, was das nächste Mal besser gemacht werden könne, danach gelte es die Ärmel hochzukrempeln und weiterzumachen. Fairness im Sport und im Leben ist ein weiterer Schwerpunkt. So habe er in der Schule als Starker die Schwachen beschützt. «Das war cool», sagt Fejzaj.
In der Schule fing alles an
2007 war’s, als ein Schulkamerad eine Schwing-Turnlektion gestaltete. Judoka Naim Fejzaj griff mit ihm zusammen und hat gewonnen. Die Weichen waren gestellt. «Ich bin immer offen für Neues», schmunzelt der mehrfache Kranzgewinner. So tauschte er das Dojo gegen den Schwingkeller. Gewöhnungsbedürftig war das Sägemehl. Lange spielte er parallel Handball, heute, nach einigen Verletzungen, fokussiert er sich ganz auf das Schwingen. Zudem hat er gelernt, auf seinen Körper zu hören. «Ich habe dem Club sehr viel zu verdanken», sagt Fejzaj «und ich bin froh, als Technischer Leiter dem Nachwuchs etwas zurückgeben zu können. Dennoch bin ich selber immer noch am Weiterlernen. Mein Trainer ist Schwingerkönig Ernst Schläpfer.»
Grosskinder begleiten
Die Familie Schläpfer und das Schwingen gehören in Wolfhalden zusammen. Mitgegründet wurde der Schwingclub von Eugen Schläpfer, heute wird der Verein von Matthias Schläpfer geführt. Eugen Schläpfer begleitet seine Grosskinder an die Trainings und zu den Wettkämpfen. Rückblickend erklärt er mit einem Schmunzeln: «Ich habe mit dem Wettkampfsport aufgehört, bevor ich ganz böse geworden bin.» Dabei nimmt er humorvoll Bezug auf die liebevolle Bezeichnung «Die Bösen» für die besten Schwinger des Landes. Auch er bezeichnet das Schwingen als Lebensschule. Man lerne, verlieren zu können. Kopf, Kraft und «Postur» allein reiche nicht, denn nicht immer sei der Gegner kleiner oder unerfahrener. Beim jährlichen Wettkampftag der jungen Schwingenden in Wolfhalden begleitet Eugen Schläpfer seinen Enkel. Er gratuliert zu guten Resultaten und tröstet bei verlorenen Kämpfen.
Hand geben und Sägemehl abwischen
Im Schwingkeller von Wolfhalden sind neben den jungen Schwingern – Schwingerinnen sind beim Augenschein keine auszumachen – viele Zuschauende anwesend. Die jungen Sportler werden von Eltern und Grosseltern sowie Freunden begleitet. Von der Tribüne gibt es immer wieder Applaus. Die beiden Gegner betreten den Ring. Geben sich die Hand. Der Kampfrichter gibt das Kommando: «Guet, griffe.» Nach dem Wettkampf wird nochmals die Hand gegeben. Aus Respekt wischt der Sieger dem Verlierer das Sägemehl vom Rücken. Manchmal wird das von den Jüngsten noch vergessen. «Das lernen sie noch», ist Eugen Schläpfer überzeugt. Und es stimmt, bei den älteren Jungs ist diese faire Geste bereits intus, wird nie vergessen, ist nur mehr oder weniger intensiv.
Gwönne ond d’Mählsäck
Gefragt nach der Motivation erklären die Jüngsten: «Mein Vater und zwei Brüder schwingen schon» - «Mein Onkel ist aktiver Schwinger» - «S’Gwönne! » - «Schwingen, das gibt es nicht überall. Das ist Tradition» - «Der Wettkampf im Sägemehl gefällt mir» - «D’Mählsäck (Schwinghosen) » - «In der Schule bin ich stark» - «Ich habe Kraft“ und «Zemme si». Letzteres fasziniert auch Naim Fejzaj: «Auf dem Platz ist es ein Kampf Mann gegen Mann. Dann geben wir uns am Ende die Hand und lachen im Festzelt gemeinsam. Dort ist es familiär. Du hockst dich irgendwo hin und alle akzeptieren dich.»
Die beste Lebensschule