«Die Frage nach dem Frieden wird im Moment gar nicht mehr gestellt»

min
19.07.2022
Das WorldEthicForum macht sich für eine lebendige Beziehung zwischen Mensch und Natur stark. Statt auf Wirtschaft setzen die Veranstalter auf positive Erfahrungen, sagt Linard Bardill. Der Liedermacher und Theologe über den Krieg in der Ukraine, die Beziehung zur Natur und eine neue Sicht der Welt.

Linard Bardill, wie kommt ein Liedermacher dazu, das WorldEthicForum ins Leben zu rufen?
Ältere Männer haben den Hang, zu überlegen, was die Welt zusammenhält, was der Sinn des Daseins ist und wie die Zukunft der Nachkommen aussieht. Man beginnt zu zweifeln, ob man wirklich alles richtig gemacht hat, und fragt sich, was man noch bewegen kann. Wir gelangen zur Einsicht, dass es politische Instrumente geben müsste, etwa einen Kongress, um das Recht der Erde einzufordern.

Warum gerade die Erde? Es gibt doch genügend Klimaaktivisten?
Da wir Menschen nicht auf die Natur hören. Wenn wir jedoch die Gesetze der Natur verinnerlichen, dann kann nichts schief gehen. Sehen Sie, der Wal existiert schon seit Millionen Jahren, der Mensch jedoch erst seit 300’000 Jahren.

In Davos tagt das World Economic Forum WEF, in Pontresina Ihr WorldEthicForum. Gibt es da Parallelen?
Auch der WEF-Gründer Klaus Schwab verfolgt einen idealistischen Ansatz. Er stellt die Frage, wie kann die Wirtschaft die Probleme der Welt lösen? Ich halte diesen ökonomischen Ansatz für verkürzt. Man muss den Menschen in den Fokus stellen, denn er ist Teil der Welt, ihrer Probleme und ihrer Lösungen. Wir Menschen sind Natur, wir haben Teil an deren Lebendigkeit. Man kann dies nicht trennen. Das ist der ethische Ansatz des WorldEthicForum.

Welche Werte werden beim WorldEthicForum diskutiert?
Das Wort Werte trägt schon den Keim der Krankheit in sich. Der Begriff stammt aus dem merkantilen 18. Jahrhundert, als man den Wert der Waren aufs Moralische übertrug. Wenn man die Welt von der Ethik herdenkt, kann man nicht von Werten reden. Wer von Werten spricht, gerät in die Falle, alles ökonomisch zu erfassen. So zäumt man das Pferd vom Schwanz her auf. Es ist besser, man orientiert sich an den eigenen Erfahrungen oder am Gewissen. Das sind Kriterien, die ausmachen, ob man der Herr oder der Freund der Natur ist.

Unsere Erfahrungen haben einen prägenden Einschnitt erlebt. Seit dem Krieg in der Ukraine ist die Diskussion über den Klimawandel in den Hintergrund getreten. Stattdessen diskutiert man über Waffenlieferungen. Was ist geschehen?
Das ist eine unglaublich komplexe Frage. Menschen, Nationen und Völker stecken in Traumata fest. Russland leidet am Phantomscherz, das einstige Weltreich der UDSSR verloren zu haben. Der Westen unter dem moralischen Anspruch, die Demokratie sei besser als all die anderen Lebensformen. Da prallen psychische, soziale, politische und geopolitische Dimensionen aufeinander. Am Schluss flüchtet man sich in eine einzige Antwort, etwa beim Angriffskrieg von Putin. Man setzt ganz Russland mit Putin gleich und die demokratischen Werte werden zur moralischen Überlegenheit. Der Krieg wird in dieser Form total, alles andere, das zuvor war, tritt in den Hintergrund.

Auch der Frieden?
Der Krieg ist dann total, wenn die Stimme des Friedens verstummt.

Wie kann man dem entgegentreten?
Da ist mir Clara Ragaz, die Ehefrau von Leonhard Ragaz, dem Begründer des religiösen Sozialismus, ein Vorbild. Sie engagierte sich im Zweiten Weltkrieg in der Friedensbewegung, selbst als alle gegen Hitler und Deutschland kämpften. Sie wollte die Stimme des Friedens nicht verstummen lassen. Das bedeutete nicht, dass Clara Ragaz für Hitler war, im Gegenteil, aber sie trat für all die Menschen ein, die der Krieg zermalmte. Ihre Arbeit lieferte nach dem Krieg die Werkzeuge, mit denen man den Frieden aufbauen konnte. Die Frage nach dem Frieden wird im Moment gar nicht mehr gestellt. Alle reden davon, die Russen aus dem Donbass zu vertreiben. Und wer über den Frieden redet, gilt als Schwurbler und wird niedergemacht.

Zurück zum WorldEthicForum: Auf den Wanderungen mit den Eseln oder zu den Kräutern und Gletschern wird ein neues Verhalten eingeübt. Was braucht es, dass Menschen ihr Verhalten ändern?
Otto Scharmer, Ökonom am Massachusetts-Institut für Technologie, hat den Prozess der Veränderung wissenschaftlich untersucht. Er zeigte, dass Veränderung vor allem durch Erfahrung geschieht. Wenn ein Mensch in einem Klima des Hasses Liebe empfängt, erhält er die Möglichkeit zum U-Turn. Oder wenn ich mit Kindern Eselswanderungen unternehme, erleben sie die Natur auf eine andere Weise. Ich erzähle ihnen, man könne mit den Bäumen reden, und die Kinder sagen mir, dass, wenn die Blätter rauschen, der Wind mit den Bäumen ein Lied singt. Den Wandel kann man nicht mit einer Predigt oder Ökodiktatur erreichen. Strafen und Sozialpunktesysteme bringen Menschen nicht dazu, sich zu ändern, sondern sie erzeugen Angst, die Menschen werden verschlagen und umgehen die Vorschriften.

Für den Wandel braucht es positive und neue Erfahrungen?
Ja, die Erfahrung, dass die Welt wunderschön ist und man mit ihr ins Gespräch kommen kann. An diesem Punkt kann eine Umstülpung geschehen wie bei einem Handschuh. Wir sind dann nicht mehr die Herren der Schöpfung, sondern ihre Liebhaber.

Wir hingegen setzen auf die Erfahrung des Besitzes und der Karriere, die uns Sicherheit versprechen.
Ich denke, die Jungen haben die Notwendigkeit der Wende schon begriffen, sie erleben die Veränderung intensiver und existentieller als wir, die ältere Generation. Wir versuchen dies über den Intellekt zu erfassen und fragen uns dauernd, wie können wir die Welt verbessern? Dabei geht es in erster Linie darum, mit der Erde ins Gespräch zu kommen, bevor man anfängt zu plappern.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online

Unsere Empfehlungen

Die Moral erobert die Politik

Die Moral erobert die Politik

Die Klimadebatte sei moralisch und religiös aufgeladen. Dies führe zu Unversöhnlichkeit, sagt der Publizist Felix E. Müller. Statt vom Weltuntergang zu reden, müsse die Politik den pragma­tischen Kompromiss suchen.
Die Moral erobert die Politik (1)

Die Moral erobert die Politik (1)

Die Klimadebatte sei moralisch und religiös aufgeladen. Dies führe zu Unversöhnlichkeit, sagt der Publizist Felix E. Müller. Statt vom Weltuntergang zu reden, müsse die Politik wieder den pragmatischen Kompromiss suchen.
«Tiere dürfen der Kirche nicht egal sein»

«Tiere dürfen der Kirche nicht egal sein»

Der Ethiker und Pfarrer Christoph Ammann wünscht sich seitens der Kirche mehr Engagement für die Rechte der Tiere. Der Präsident des Arbeitskreis Kirche und Tiere unterstützt die Massentierhaltungs-Initiative.