Liebeslieder und Protestsongs

Die Geschichten hinter den berühmtesten Weihnachtsliedern

von Thomas Binotto, tz, pd
min
20.12.2023
Jetzt werden sie wieder unzählige Male in Gottesdiensten, an Heiligabend oder beim offenen Singen angestimmt: Weihnachtslieder. Hinter den Evergreens verbergen sich oft anrührende Entstehungsgeschichten.

O Heiland, reiss die Himmel auf

Hilferuf gegen Krieg und Hexenverfolgung

Als der Jesuit Friedrich Spee dieses Adventslied schrieb, tobte der Dreissigjährige Krieg (1618–1648). Es war eine Zeit, die ungeheures Leid über die Bevölkerung in Mitteleuropa brachte, nicht nur durch die Kämpfe, sondern auch durch Seuchen und Hungersnöte. Zwischen den Konfessionen herrschte Krieg, und der Hexenwahn erreichte seinen erschreckenden Höhepunkt. Wer diesen Hintergrund kennt, versteht augenblicklich, weshalb «O Heiland, reiss die Himmel auf» etwas von einem Klagelied ausstrahlt, das sich ungeduldig an Gott wendet.

«Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?», singt Spee. Seine Klage: «O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal» war nicht einfach fromme Poesie, sondern ein echter Hilfeschrei. Dieser war umso glaub­würdiger, als Friedrich Spee sich mutig und entschieden für die Notleidenden eingesetzt hat. Sein berühmtestes Buch ist die «Cautio criminalis». Darin zerpflückt er den Hexenglauben als Wahn und prangert die Hexenverfolgung als Verbrechen an. Damals musste der Jesuit wegen dieses Buches sogar von seinem eigenen Orden disziplinarische Massnahmen erdulden. Spee, der selbst aus dem Adel stammte, trug Verwundete vom Schlachtfeld, stand den Aussenseitern bei, kämpfte für Gerechtigkeit und starb 1635, weil er sich bei seinem unermüdlichen Einsatz für die Leidenden die Pest zugezogen hatte.

 

 

Macht hoch die Tür

Gesang kennt keine Grenzen

Es gibt wohl kaum eine Zeit im Kirchenjahr, in der das Liedgut von Katholiken und Protestanten so einträchtig ineinander übergeht wie in der Weihnachtszeit. Ein Beispiel dafür ist «Macht hoch die Tür, die Tor macht weit», das in allen christlichen Kirchen gleichermassen beliebt ist. Sein Dichter, der evangelische Pfarrer Georg Weissel, war ein Zeitgenosse Friedrich Spees und starb wie dieser 1635 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad. Wie im Barock häufig, bezog sich sein Liedtext auf eine Bibelstelle, nämlich den Psalm 24.
Obwohl das Lied wegen seiner schwungvollen Melodie heute noch beliebt ist, wurde der Text mit seinen vielen Anspielungen schwer verständlich. Wer weiss schon, dass mit den «Zweiglein der Gottseligkeit» nicht nur Tannenzweige gemeint sind, mit denen man das Haus schmückt, sondern auch die Palmzweige, die das Volk vor Jesus ausgebreitet hat, als dieser in Jerusalem einzog.

 

 

Es kommt ein Schiff geladen

Mystische Symbolik vom Schiff vor Anker

Für die Menschwerdung Gottes wurden immer wieder neue Bilder gefunden, die dieses unfassbare Ereignis anschaulich machen sollten. Der Vergleich mit einem Schiff, das bei uns anlegt, bis an den Rand mit wertvollen Gütern beladen, wurde dem Mystiker Johannes Tauler zugeschrieben, der im 14. Jahrhundert gelebt hat. Selbst wenn der Text wahrscheinlich nicht von ihm persönlich stammt, so ist er doch von seinem Denken beeinflusst. Im Laufe des Liedes wird das Bild weiter entfaltet: Das Segel versinnbildlicht die Liebe. Der Mast steht für den Heiligen Geist. Und wenn das Schiff vor Anker geht, dann ist damit gemeint, dass Gott Mensch geworden ist.

 

 

Ich steh an deiner Krippe hier

Geschrieben von den Superstars des Barocks

Der evangelische Pfarrer und Dichter Paul Gerhardt schrieb den Text 1653 kurz nach dem Ende des Dreissigjährigen Kriegs. Er taucht schon früh auch in den Gesangbüchern auf, genauso wie sein Passionslied «O Haupt voll Blut und Wunden». Wie so viele Weihnachtslieder wurde es im Laufe der Jahrhunderte stark gekürzt. Von den ursprünglich 15 Strophen sind nur noch vier übrig geblieben. Paul Gerhardt war ein Barockdichter,
der zwar seine Frömmigkeit bildhaft auszudrücken verstand, dabei aber nie in berüchtigten Barock-Kitsch verfiel. Nicht zuletzt deshalb sind seine Lieder zeitlos und berühren uns heute noch. Die Melodie, nach der wir das Lied singen, stammt von keinem Geringeren als Johann Sebastian Bach, der es in sein Weihnachtsoratorium eingebaut hat.

 

 

Vom Himmel hoch, da komm ich her

Aus der Feder des Reformators

1535, so wird berichtet, habe der deutsche Reformator Martin Luther dieses Lied für seine fünf Kinder zur Weihnachtsbescherung gedichtet. Luther schätzte das Kirchenlied als Weg der Verkündigung und ebnete dem deutschen Gesang den Weg in die Kirche. Dass Luther und auch Zwingli Lieder komponierten, ist nicht erstaunlich: Das Studium der Musik und das Spielen eines Instrumentes gehörte im 16. Jahrhundert zur Ausbildung an einer Hochschule. Die erste Strophe des Liedes «Vom Himmel hoch, da komm ich her / ich bring euch gute neue Mär» geht zurück auf ein Spielmannslied.

 

 

Stille Nacht, heilige Nacht

Eine Story für Hollywood

Die Entstehungsgeschichte von «Stille Nacht» ist legendär: Kurz vor der Mitternachtsmesse 1818 gab im kleinen Ort Oberndorf bei Salzburg die Orgel ihren Geist auf. Für eine Reparatur reichte die Zeit nicht. Das war umso ärgerlicher, als der Kaplan Joseph Mohr eigens für diesen Abend ein Gedicht geschrieben hatte, das vom befreundeten Lehrer Franz Gruber vertont worden war. In der Not wurde die Uraufführung von einer Gitarre begleitet. Die improvisierten Umstände taten dem Erfolg keinen Abbruch, das Lied verbreitete sich sehr schnell und ist heute das Weihnachtslied schlechthin. Obwohl es gar nicht einfach zu singen ist und der Text theologisch dürftig scheint, scheitern die meisten Versuche, «Stille Nacht» in den Mitternachtsgottesdiensten am Heiligen Abend durch etwas Gehaltvolleres zu ersetzen. Das Lied ist Volksbrauchtum geworden – und damit praktisch immun gegen sämtliche Angriffe.

 

 

O du fröhliche

Aus dem Waisenhaus über den Weihnachtsschlager

Heute gehört «O du fröhliche» zu jeder Weihnachtsfeier – ursprünglich jedoch spendete es 30 WaisenkindernTrost. Die Geschichte geht zurück ins Weimar des Jahres 1815, ins Waisenhaus des Theologen Johannes Daniel Falk. Falk hatte einige Jahre zuvor vier seiner sieben Kinder an Typhus verloren. Im selben Winter klopfte mitten in einem heftigen Schneesturm ein fremdes Kind an seine Tür, das offensichtlich beide Eltern im Krieg gegen napoleonische Besatzungstruppen verloren hatte. Der gutmütige Falk nahm das Kind auf – und bald darauf noch viele mehr. 1815 wollte er seinen Waisenkindern zu Weihnachten ein Lied schenken und dichtete kurzerhand die Strophen zu «O du fröhliche». Die Melodie stammt von einem bekannten Fischerlied aus Sizilien.

 

 

O Tannenbaum

Eine Liebesballade eines gebrochenen Herzens

Das heute freudig angestimmte Weihnachtslied war ursprünglich ein trauriges Liebeslied. Dem Potsdamer Gelehrten August Zarnack war 1820 das Herz gebrochen worden, so schrieb der Unglückliche die Strophe «Du grünst nicht nur zur Sommerszeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit» über seine untreue Geliebte. Die Melodie stammt von einem Zimmermannslied. Vier Jahre später schnappte sich sein Leipziger Kollege Ernst Anschütz das erfolgreiche Lied und machte darauf unter Beibehaltung der ersten Strophe ein fröhliches Weihnachtslied für Kinder.

 

 

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