75 Jahre Reformierte Kirche Kanton Solothurn

«Die Kirche wirkt als Kitt für die Gesellschaft»

von Tilmann Zuber
min
27.10.2023
Vor 75 Jahren wurde die reformierte Kirche Kanton Solothurn gegründet. Sie wirkt als Bindeglied zwischen Kanton und Kirchgemeinden. Regierungsrat Remo Ankli und Synodalratspräsidentin Evelyn Borer über Missbrauchsfälle und darüber, warum es sich lohnt, in der Kirche zu bleiben.

Evelyn Borer, die reformierte Kirche des Kantons Solothurn feiert ihr 75-jähriges Bestehen. Ist sie eine junge oder eine alte Kirche?

Borer: Mit 75 Jahren ist man als Kirche nicht mehr jung, aber auch nicht alt. Aus kirchengeschichtlicher Sicht sind wir mit 75 Jahren sehr jung und haben noch viele Entwicklungsmöglichkeiten.

Regierungsrat Remo Ankli, wie ist das Verhältnis zwischen Kanton und Landeskirche?

Ankli: Gut und konstruktiv. Man sucht nach Lösungen, wenn Fragen auftauchen – nicht nur mit unserem Departement, dem Bildungsdepartement, sondern auch mit allen anderen Departementen.

Wo arbeitet die Regierung mit den Kirchen zusammen?

Ankli: Zum Beispiel bei der Spital- oder der Gefängnisseelsorge, beim Finanzausgleich zwischen den Kirchgemeinden oder beim Unterricht, wo wir einen Teil des Fachbereichs «Ethik, Religionen, Gemeinschaften» den Kirchen übertragen haben.

Evelyn Borer, was wünschen Sie sich vom Kanton?

Borer: Die Zusammenarbeit mit dem Kanton ist sehr eng und funktioniert gut. Unser Seelsorgeangebot ist offen für alle, unabhängig von Konfession oder Kirchenzugehörigkeit. Sie betrifft einen Teil unseres Lebens. Manchmal stelle ich fest, dass man von staatlicher Seite eher zurückhaltend mit der Seelsorge umgeht und das Gefühl hat, das habe ein «kirchliches Gschmäckli». Da wünsche ich mir einen entspannteren Umgang, der zeigt, wie selbstverständlich und wichtig Seelsorge für die gesamte Gesellschaft ist.

Die Religionen spielen eine grosse Rolle bei der gesellschaftlichen Integration, zum Beispiel von Migranten.

Braucht es heute mehr Seelsorge?

Borer: Ja. Die Coronapandemie, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten verunsichern die Gesellschaft. Hinzu kommt, dass heute viele Menschen allein leben und manche einsam sind. Hier könnte die Kirche seelsorgerisch wirken, indem sie Menschen zusammenführt und ihnen hilft, Halt und Orientierung im Leben zu finden.

Remo Ankli, was erwarten Sie von der reformierten Kirche?

Ankli: Dass sie weiterhin die Seelsorge für Menschen in schwierigen Lebenssituationen wahrnimmt. Gerade Migranten sollte die Kirche helfen, hier eine Heimat zu finden. Die Kirchen werden ja kleiner, meine Hoffnung ist, dass die Kirchen diese Aufgaben trotzdem weiterhin wahrnehmen. Die Kirche ist diesbezüglich sehr wichtig, sie wirkt als Kitt für die Gesellschaft.

Remo Ankli, wie nehmen Sie die reformierte Kirche wahr?

Ankli: Ich nehme sie als sehr offen, flexibel und konstruktiv wahr. Wir haben ja im Kanton Solothurn zwei evangelisch-reformierte Landeskirchen, die Evangelisch-Reformierte Kirche des Kantons Solothurn und die Reformierte Bezirkssynode Solothurn, die zur Kirche Bern-Jura-Solothurn gehört. Das funktioniert bestens.

Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Reformierten und Katholiken aus?

Ankli: Sie ist vorbildlich. Das zeigt sich auch in der fruchtbaren Zusammenarbeit mit der Solothurnischen Interkonfessionellen Konferenz, in der alle Landeskirchen vertreten sind.

Die katholische Kirche in der Schweiz ist mit Missbrauchsfällen konfrontiert. Was erwartet die Regierung von der katholischen Kirche?

Ankli: Wir erwarten, dass sie den Weg der Aufarbeitung und der Erarbeitung von Präventionsmechanismen konsequent weitergeht. Die Kirche muss das Umfeld so gestalten und die Menschen so schulen, dass Missbrauchsfälle gar nicht erst passieren können. Das muss verbessert werden.

Wir werden eine gewisse Bereinigung erleben und schauen müssen, welche Aufgaben und Schwerpunkte wir noch wahrnehmen wollen.

Evelyn Borer, wie erleben Sie als Reformierte die Diskussion zu den Missbrauchsfällen?

Borer: Als zweischneidig: Auf der einen Seite gibt es Reformierte, die sagen: «Gott sei Dank betrifft uns das nicht. Das haben wir von den Katholiken schon immer gewusst.» Da macht man es sich zu einfach, denn Missbrauch kann auch bei uns passieren. Auf der anderen Seite gibt es bei den Reformierten keine Internate, und die reformierte Kirche ist nicht so hierarchisch und geschlossen strukturiert, sondern demokratisch. Das verringert natürlich die Gefahr des Missbrauchs.

Im Herbst findet die Woche der Religionen statt, die den Dialog zwischen den Religionen und Konfessionen fördert. Wie sehen Sie, Remo Ankli, die Beziehungen zwischen den Religionen?

Ankli: Ich nehme vordergründig wahr, dass es keine Schwierigkeiten zwischen den Religionen gibt. Unsere Erwartung an die Konfessionen und Religionen ist, dass es nicht zu Konfrontationen kommt, sondern dass man offen ist und dazu bereit, miteinander zu reden. Die Religionen spielen eine grosse Rolle bei der gesellschaftlichen Integration, zum Beispiel von Migranten. Die Gemeinschaften können diese Rolle aber nur wahrnehmen, wenn sie sich nicht abschotten. Ich sehe, dass die christlichen Kirchen da sehr aufgeschlossen sind.

Die Kirche war erfolgreich, weil ihr karitatives Anliegen zum gesellschaftlichen Anliegen wurde, das der Staat übernahm.

Die Kirche wird kleiner und ärmer. Was passiert, wenn die Kirche ihre gesamtgesellschaftlichen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen kann?

Ankli: Diese Diskussion wird kommen. Ich kann mir durchaus andere Modelle vorstellen. Viele Kirchenmitglieder sind überzeugte Christinnen und Christen und in den Gemeinden aktiv. Vielleicht wird man in Zukunft noch mehr auf Ehrenamtliche setzen. Klar ist: Kleinere Kirchen bedeuten weniger Möglichkeiten, den Auftrag zu erfüllen. Diese Entwicklung ist in absehbarer Zeit nicht aufzuhalten. Ein grosses Problem sehe ich in der Instandhaltung der bestehenden Gebäude.

Evelyn Borer, wie sehen Sie die Zukunft der reformierten Kirche?

Borer: Wir werden ärmer und kleiner, aber deshalb nicht weniger wichtig. Wenn die Kirchensteuern zurückgehen, müssen wir uns fragen, welche Aufgaben wir noch wahrnehmen können und welche finanzielle Unterstützung wir dafür brauchen. Ich bin sicher: Die Kirche wird nicht untergehen. Wir werden eine gewisse Bereinigung erleben und schauen müssen, welche Aufgaben und Schwerpunkte wir noch wahrnehmen wollen. Und wie wir uns verändern müssen, um unseren Beitrag in der Gesellschaft weiterhin leisten zu können.

Ankli: Die Kirchen waren über Jahrhunderte in vielen Bereichen wie der Armenfürsorge oder der Krankenpflege tätig. Diese Bereiche haben die Kirchen an den Staat abgegeben, der sie professionalisierte. Die Kirche war erfolgreich, weil ihr karitatives Anliegen zum gesellschaftlichen Anliegen wurde, das der Staat übernahm. Andererseits hat die Kirche auf diese Weise einen Teil ihrer Aufträge und Funktionen verloren.

Wer in der Kirche mitmacht, erhält wichtige Impulse für sein Leben und kann sich für und mit anderen engagieren.

Wo sehen Sie einen der Schwerpunkte der Kirche?

Ankli: Ihr Kernauftrag ist es, den Glauben zu vermitteln und weiterzutragen. Dann hat die Kirche auch eine Zukunft. So ist meine Hoffnung. Es ist wichtig, wahrzunehmen, dass es in der Gesellschaft die Glaubensgemeinschaften sind, die den Transzendenzbezug für die Menschen schaffen. Sie weisen darauf hin, dass das Leben hier auf Erden nicht alles ist, sondern dass es etwas darüber hinaus gibt. An dieser Schärfe könnten die Kirchen noch arbeiten. Aber es ist nicht an mir, Empfehlungen abzugeben.

Zum Schluss: Es wird ständig über Kirchenaustritte gesprochen. Evelyn Borer, warum sollten Menschen in die Kirche eintreten?

Borer: Weil wir viel bieten. Wir sind eine offene Gemeinschaft, in der alle ihre Meinung sagen dürfen und sich einbringen können. Wer in der Kirche mitmacht, erhält wichtige Impulse für das eigene Leben und kann sich für und mit anderen engagieren. Das stärkt die Beziehungen und das Gefühl, die Gemeinschaft positiv mitzugestalten. Deshalb ist es wichtig, dabeizubleiben. Einfach auszutreten, ändert nichts, nichts in der Kirche und nichts in der Gesellschaft

 

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