Die kleine Hexe
Als Kind habe ich mich an Fasnacht als Hexe verkleidet, ausgerüstet mit einem Besen. Prinzessin wollte ich nie sein, die konnte weder zaubern noch fliegen. Gerne wäre ich als Robin Hood, Cowboy, Ritter oder Indianer (heute Native American) gegangen. Doch diese Heldenrollen waren in den 1980er Jahren den Jungs vorbehalten. Alternativ gab es noch den Clown, den durften auch Mädchen. Aber eine rote Plastiknase und lustig tun? Das war keine Option. So ging ich als kleine Hexe. Das Kostüm kreierte ich aus alten Kleidern und Tüchern. Ein altes, dickes Tierlexikon diente als Zauberbuch und der Reisigbesen gab mir Kraft. Mit ihm konnte ich sogar gegen Ritter und Cowboys kämpfen.
Fliegende Heldin mit Zauberkraft
Vorbild war die gleichnamige Figur aus dem Kinderbuch «Die kleine Hexe» von Ottfried Preussler, das im Jahr 1957 erschienen ist. Die Figur der gutmütigen und listigen Hexe läutete in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur einen Wandel ein. Dieser kleinen Hexe folgt eine lange Reihe weiterer Heldinnen. Hilfsbereite Wesen, die vor allem mit Kindern oder Tieren befreundet sind. Sie heissen Hexe Lakritze, Bibi Blocksberg, Petronella Apfelmus, Hexe Lilli, und nicht zu vergessen, die Hexen in Harry Potter, allen voran Hermine Granger. Hermine und all die anderen Zauberinnen sind bis heute Vorbilder für viele Mädchen. Sie sind nicht nur gescheit und können zaubern und fliegen, sie sind auch unabhängig.
Die kleine Hexe zum Beispiel lebt allein mit ihrem Raben Abraxas in einer Hütte im Wald und ist höchst zufrieden. Bis jetzt hat sie es mit dem Zaubern nicht so genau genommen. Obwohl sie erst 127 Jahre jung ist, möchte sie unbedingt bei der Walpurgisnacht dabei sein und mit den grossen Hexen um das Hexenfeuer reiten. Vorher muss sie allerdings vor dem Hexenrat eine Prüfung bestehen. Also büffelt sie mit Unterstützung ihres Raben fleissig Zaubersprüche. Die kleine Hexe tut alles, um eine richtige Hexe zu werden. Sie kann an der Prüfung das ganze Hexenbuch auswendig und zaubert genau das, was die Oberhexe von ihr verlangt. Es könnte besser nicht laufen. Bis die Muhme Rumpumpel ausplaudert, was die kleine Hexe im letzten Jahr alles gemacht hat. Sie beschreibt, dass die kleine Hexe den Ochsen Korbinian vor dem Schlachten gerettet hat. Zudem hat sie dem Marronimann warme Füsse gezaubert, damit er nicht mehr so friert. Und sie hat dem Bierkutscher die Peitsche verzaubert, die jetzt ihn und nicht mehr seine Pferde trifft, was die Pferde freut und den Kutscher zum Guten verwandelt. Als Gipfel aller Zauberei hat die kleine Hexe einen Wirbelwind gezaubert, damit die Holzweiber ihre Körbe mit Klaubholz füllen können. Das alles gefällt dem Hexenrat ganz und gar nicht. Schimpf und Schande erntet die kleine Hexe für ihre guten Taten. Denn alle grossen Hexen sind sich einig: Nur eine Hexe, die immer und allzeit Böses hext, ist eine gute Hexe.
Doch die kleine Hexe will weder Böses zaubern noch lässt sie sich unterkriegen. Sie ist erfinderisch und hext den grossen Hexen am Ende der Geschichte das Hexen weg. Und weil die kleine Hexe um ein Feuer tanzen will, hext sie alle Hexenbücher und Hexenbesen der grossen Hexen herbei und zündet sie an. Am Ende der Geschichte reitet die kleine Hexe auf ihrem Besen um ein wild loderndes Feuer und feiert gut gelaunt Walpurgisnacht.
Sie hat nicht nur sich selbst befreit, sondern auch ein neues Buch aufgeschlagen. Sie lässt sich weder die Macht des Zauberns noch das Besenfliegen nehmen. Zudem befreit sie sich von ihrem schlechten Ruf. Damit steht sie stellvertretend für viele Frauen, die über Jahrhunderte mit Salben, Sprüchen und übersinnlichen Fähigkeiten für Menschen und Tiere da waren, um ihnen zu helfen.
Patriarchale Machtstrukturen
Doch genau das duldeten die patriarchalen Strukturen jahrhundertelang nicht. Frauen, die Unabhängigkeit und Macht besassen, stellten eine Bedrohung dar. Diese Attribute waren Männern vorbehalten. Unzählige Frauen wurden aus haarsträubenden Gründen bis ins 17. Jahrhundert zu Hexen gemacht und auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder hingerichtet.
Im Märchen von Hänsel und Gretel lockt die Hexe die Kinder mit Leckereien an, mit dem Plan, Hänsel zu mästen, im Ofen zu braten und zu essen. Die Geschichte endet für die Kinder gut, die böse Hexe allerdings wird am Ende verbrannt. Da vermeintliche Hexen in der Geschichte verbrannt wurden, hat dieses Märchen einen bitteren Beigeschmack. Hexenverbrennung und Hexenverfolgung ist ein Thema, das in realhistorischen Romanen immer wieder vorkommt. Beispielsweise verarbeitet die Schweizer Schriftstellerin Eveline Hasler diesen Stoff in ihrem Roman «Anna Göldi – Letzte Hexe». Anna Göldi, wurde 1782 in Glarus als letzte Hexe Europas hingerichtet.
Die Hexe in der Frauenbewegung
Auch die Frauenbewegung der 1970er Jahre hat sich vermehrt mit der Darstellung der Hexe beschäftigt. Besonders unter DDR-Autorinnen ist die Hexe eine beliebte Figur, um Kritik an patriarchalen und politischen Verhältnissen zu üben. Bei Irmtraud Morgner ist es das Buch «Amanda – Ein Hexenroman». Die Hauptfigur Laura, eine typische Frau ihrer Zeit, verkörpert die «Normalfrau» schlechthin. Sie ist Mutter, berufstätig und aufopferungswillig. Sie wird von der Autorin als Halbwesen bezeichnet. Ihre abgespaltene andere Hälfte, die Amanda heisst, führt in einer Traumwelt ein hexenhaftes Schattendasein. Laura erkennt, dass sie diese Hälfte in ihr Leben integrieren muss. Doch Amanda würde die von der Gesellschaft gezogenen Grenzen überschreiten. Laura scheitert bei dem Versuch, aus den Normen auszubrechen.
Gesellschaftskonforme Rolle der Frau
Frauen und Männer sind auch heute noch längst nicht gleich. Es sind Begriffe wie Rabenmutter, Karrierefrau, Hure, Schlampe und eiserne Lady, die auch heute noch Geringschätzung gegenüber Frauen ausdrücken. Das Gefühl, eine Rolle nicht gesellschaftskonform zu erfüllen, sitzt bei Frauen tief. Doch es tut sich was. Die Wandlung geschieht langsam, aber stetig. Die Literatur hilft dabei, Mythen zu verändern. Längst werden stereotype Rollenbilder hinterfragt. Mit der Genderdebatte wird dies auf radikale Art und Weise von immer mehr jungen Menschen gefordert. Und es ist wünschenswert, dass wir nicht auf eine Rolle reduziert werden, sondern verschiedene Seiten von uns vereinen und zeigen können. Fasnacht ist eine gute Gelegenheit, unabhängig von Geschlecht und Vorurteil eine neue Rolle auszuprobieren. Zum Beispiel die der Hexe. Und die gibt gerne Zaubersprüche mit auf den Weg.
Zeit sie kommt, Zeit sie geht, das Gute bleibt, das Böse geht.
Abb. aus: Otfried Preußler, Winnie Gebhardt (Ill.): „Die kleine Hexe“, Thienemann Verlage.
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