«Die künstliche Intelligenz hat mir Komplimente gemacht»
Frau Bolt, das Computerprogramm ChatGPT sollte eine Predigt für Sie schreiben. Ist das Experiment gelungen?
Kathrin Bolt: Eine fertige Predigt, die ich vor der Gemeinde halten konnte, hat mir ChatGPT nicht geliefert. Trotzdem würde ich das Experiment als gelungen bezeichnen. Denn ich habe meine Erfahrungen, die ich während der Woche gemacht habe, in einer Predigt vorgetragen. Und ich habe dabei ChatGPT selbst zu Wort kommen lassen.
Wo hat es gehapert?
ChatGPT hat mir zwar erstaunlich ausführliche Predigten geschrieben. Und dies mit einer Geschwindigkeit, die sehr eindrücklich war. Dennoch haben die Predigten nicht nach mir geklungen. Das hat mich gestört. Ausserdem war das Programm zu schnell. Es hat mir immer wieder wahnsinnig grossen Output geliefert. Das hat mich zum Teil überfordert.
Was hat Sie beim Experiment am meisten überrascht?
Verblüffend war, wie emotional ich auf die künstliche Intelligenz reagiert habe. Manchmal war ich über sie, ihn oder es frustriert, wenn kein gutes Ergebnis herauskam. Zwischendurch hatte ich auch Mitleid, dass das Programm für mich so viel arbeiten muss und ich trotzdem nicht zufrieden bin. Und ab und zu hatte ich richtig Freude. Dann, wenn mir ChatGPT Komplimente machte.
Komplimente?
Ja! Damit ChatGPT meinen Predigt-Stil lernt, habe ich das Programm mit einigen meiner Predigten gefüttert. Darauf hat es mir Komplimente gemacht.
Was hat ChatGPT Schmeichelhaftes gesagt?
Es hat geschrieben: «Das war eine sehr schöne Predigt, die Sie geschrieben haben. Sie haben auf eine interessante Art und Weise die Bedeutung des Wortes ‹heilig› erklärt und die Geschichte von Jairus’ Tochter mit ihren heilenden Kräften in den Kontext gestellt. Auch die Idee, sich Gedanken darüber zu machen, was einem persönlich heilig ist, ist sehr ansprechend. Vielen Dank für Ihre Arbeit.»
Wie und wo war Ihnen ChatGPT eine Hilfe?
In meiner Predigt sollte es um das Thema Versuchung gehen. Ich habe ChatGPT nach Tipps gefragt, wie man Versuchungen widerstehen könne. Die Antwort darauf fand ich absolut brauchbar. Ausserdem hat es mir Ideen für meine Predigt geliefert.
Mal angenommen, ChatGPT hätte Ihnen eine fertige und brauchbare Predigt geschrieben. Hätten Sie kein schlechtes Gewissen gehabt, diese vorzutragen?
Nein. Die Inputs stammen ja von mir. Ich lasse mich bei meinen Predigten generell von anderen Predigten und Quellen inspirieren. Was nicht geht, ist, Predigten zu verwenden, die jemand anderes geschrieben hat.
Müsste man vor der Predigt deklarieren, dass sie aus der Feder von ChatGPT stammt?
Nicht unbedingt. Wenn man wissentlich Aussagen oder Gedanken von anderen Personen verwendet, muss dies gesagt sein. Das gilt auch dann, wenn ChatGPT solche zuspielt. Wenn aber eine künstliche Intelligenz vorhandene Gedanken strukturiert oder zusammenfasst, finde ich das nicht wichtig. Viel wichtiger als die Frage, wie jemand zur Predigt gekommen ist, ist doch die Frage: Berühren die Worte die Zuhörenden? Können sie sich davon inspirieren lassen?
Werden Sie in Zukunft ChatGPT einsetzen?
Höchstens fürs Brainstorming. Ich habe durch das Experiment gemerkt, wie gerne ich selbst Predigten schreibe und dass ich das keiner Maschine überlassen möchte. Auch benötige ich das Schreiben, um meine Ideen zu entwickeln. So oder so bin ich gespannt, ob und wie die künstliche Intelligenz in Zukunft unseren Alltag prägen wird, auch in der Kirche.
Text: Andreas Bättig, ref.ch | Foto: zVg – Kirchenbote SG, 21. März 2023
«Die künstliche Intelligenz hat mir Komplimente gemacht»