Die Macht des Gesanges

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21.09.2020
Menschen singen seit Urzeiten – und täten gut daran, es auch in Zukunft zu tun.

«Der Mensch, als Tiergattung, ist im Wesentlichen ein singendes Geschöpf», stellte Wilhelm von Humboldt fest. Ohne Zweifel: Rund um den Globus singen Menschen im Chor auf der Bühne, trällern ein Solo unter der Dusche, summen ihre Kinder in den Schlaf, schmettern Hymnen in Gottesdiensten und Fussballstadien. Während die Forschung noch viele offene Fragen hat, ist für Singbegeisterte längst klar: Gesang wirkt Wunder an Körper, Seele, Geist und Gemeinschaft.

Sie sangen
Sie sangen. Als es in diesem Frühling in ihren Städten gespenstisch still geworden war, traten die Italienerinnen und Italiener auf ihre Balkone und stimmten bekannte Melodien an. Im rigorosen Lockdown ihrer alltäglichsten Möglichkeiten beraubt, setzten sie ein bewegendes Zeichen der Solidarität, Hoffnung und Widerstandskraft: Sie sangen gemeinsam. Ein unvergleichlich simples, uraltes und vielschichtig wirksames Allzweckmittel.

«Singen ist die eigentliche Muttersprache aller Menschen» 

Tu Dir Gutes und sing!
Denn wer singt, verschafft sich automatisch Bewegung und verbessert seine Stimmung nachweislich innert kurzer Zeit; tiefe Atmung und aufrechte Haltung verstärken die Sauerstoffzufuhr und erschweren Angstzustände. Gemeinsamer Gesang stabilisiert und synchronisiert Herzfrequenzen, wirkt der Vereinsamung entgegen und erzeugt – vermutlich durch verstärkte Hormonausschüttung – Verbundenheit und Vertrauen, was auch Schicksalsschläge besser verkraften lässt. Die Balkonsängerinnen und -sänger sandten also nicht nur eine kraftvolle Botschaft nach aussen, sie taten sich auch etwas Gutes. Das bestätigen Singende immer wieder: Sie fühlten sich besser, entspannter und geborgen; Singen wirke sich positiv aus auf Spiritualität, Emotionen und Herz- und Immunsystem. 

VerblĂĽffende Effekte
Die Forschung widerspricht diesen Erfahrungen nicht, aber streng wissenschaftlich bestätigen kann sie laut Musikwissenschaftler Gunter Kreutz noch erstaunlich wenig. So gebe es keine tragfähigen Belege, dass singende Menschen gesünder seien oder älter würden. Trotzdem kann Kreutz einige erwiesene Wirkungen auflisten (siehe Kasten). Sein Buch trägt den Titel: «Warum Singen glücklich macht». Erklärlich oder nicht: Positive Effekte werden vielerorts beobachtet – und genutzt. So besuchen Seniorinnen und Senioren als «Singpaten» Kindergärten und Kitas, weil der Spracherwerb singend besonders gut gelingt. Kleine Kinder verhalten sich einfühlsamer, wenn sie zuerst gemeinsam gesungen haben. 

Bewusstes Ansprechen von Behinderten
Manche Chöre sprechen bewusst Flüchtlinge oder Personen mit Behinderungen an, weil Singen niederschwellig ist und Menschen besonders schnell in Kontakt treten lässt. In Kliniken und Altersheimen werden vermehrt Singgruppen eingeführt für Patienten und Mitarbeitende. Therapeutische Ansätze verblüffen bei Opfern von Schlaganfällen, die ihre Sprechfunktion über das Singen wiedererlangen, oder bei der Steigerung der Lebensqualität von Parkinsonpatienten, Lungen- und Demenzkranken.

Nur Käsekuchen für die Ohren?
Aber warum und wann begannen unsere prähistorischen Vorfahren einst zu singen? Das wird kein Fund je zeigen können, entsprechend spekulativ und breit gefächert sind die Theorien. Inzwischen wird mehrheitlich angenommen, dass die Vorfahren des modernen Menschen sangen, noch bevor sie Worte fanden und Melodieinstrumente bauten. Damit stünde ein – für unsere Ohren vielleicht sehr fremdartiger – Gesang am Anfang von Musik und gesprochener Sprache. Entstand dieses erste Singen als Imitation der Klänge der Umgebung? Oder als mütterlicher Singsang mit Neugeborenen? Oder wurde gesungen, um gefährliche Tiere einzuschüchtern oder vor ihnen zu warnen? Wurde der beste Sänger zuerst zur Fortpflanzung eingeladen? Oder hat doch jener Forscher recht, der Gesang und alle Musik als evolutionäres Abfallprodukt bezeichnete, als «Käsekuchen für die Ohren»? 

Von der Wiege bis zur Bahre
Gesang als blosses Klangdessert, das zufällig unsere Belohnungszentren im Gehirn verführt – schwer zu glauben. Viele ForscherInnen betonen die soziale Bedeutung des Singens, das uns über die ganze Menschheitsgeschichte und in allen Lebenslagen vom Schlaflied an der Wiege bis zur Totenklage an der Bahre begleitet. Lieder tragen zudem besonders einprägsam das kollektive Gedächtnis in Form von Mythen, Geschichte(n) und Alltagswissen weiter. Gesang unterstützte auch gemeinsame, oft monotone Arbeit, als Motivationsspritze oder Taktgeber etwa auf dem Feld, auf See oder in Fabriken. Leider kann Gesang auch seine Unschuld verlieren und wird durch intolerante Gruppen oder diktatorische Regimes effizient eingesetzt für Aufhetzung und Erniedrigung wie im Dritten Reich. Demgegenüber stehen positive Beispiele von politischem Widerstand, etwa als 1991 in der «Singenden Revolution» Hunderttausende Menschen in den baltischen Staaten die Unabhängigkeit von der Sowjetunion «ersangen».

Nur vier Prozent aller Menschen sind wirklich neurologisch «melodieblind»

Auf die Balkone!
Dass in ausnahmslos jeder Kultur der Erde seit Urzeiten Lieder existieren, gibt dem Geiger Yehudi Menuhin Recht. «Singen ist die eigentliche Muttersprache aller Menschen», sagte er, der sich für die Förderung des Gesangs im Alltag einsetzte. Aber was ist dann mit den sanglosen 80 Prozent der Schweizer Bevölkerung (siehe Kasten)? Viele verstummen aus Scham wegen unsensibler Kommentare in Kindheit und Jugend (aber nur vier Prozent aller Menschen sind wirklich neurologisch «melodieblind»!), andere haben Vorurteile oder keinen Bezug. Damit uns das Singen aber selbstverständlich wie eine Muttersprache über die Lippen kommt, brauchen wir von klein auf Zeit, Unterstützung und Vorbilder beziehungsweise Vorsängerinnen und Vorsänger. Doch es fehlt an familiärer Tradition, schulischen Ressourcen und gesellschaftlichem Prestige – und inzwischen auch am gemeinsamen Repertoire. Dabei täte uns eine eigene singende Revolution gut, in Zeiten von Verunsicherung, Isolation und gesellschaftlicher Spaltung sowieso: nicht gegeneinander auf die Barrikaden steigend, sondern gemeinsam auf Balkonen singend.

 

Text: Philipp Kamm, Ebnat-Kappel | Foto: Katharina Meier  – Kirchenbote SG, Oktober 2020

 

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