Die «Puure-Kirche» trifft einen Nerv

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23.08.2022
Im Rheintal wächst eine neue Form von Kirche heran. Die «Puure-Kirche» ist auf die Bedürfnisse der Bauern zugeschnitten. Denn für Bauern ist es oft schwierig, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Eine bunte Gesellschaft sitzt neben der Scheune an Tischen. Hinter dem Grill brät Bauer Ernst Leibundgut Würste, mit denen sich Klein und Gross gerne eindecken. Die Stimmung ist entspannt. Doch was aussieht wie ein gewöhnliches Fest auf dem Bauernhof, ist ein Treffen der «Puure-Kirche»: Fast jeden Monat feiern Bauern im St. Galler Rheintal einen Bauerngottesdienst.

 

«Wir möchten es den Bauern mit der ‹Puure-Kirche›  möglichst einfach machen: Wir treffen uns zu einer passenden Zeit, sonntags um halb zwölf, die Kinder sind versorgt und es gibt etwas zu essen.»
Ernst Leibundgut, Bauer

Unterstützt wird die «Puure-Kirche» von Thomas Beerle. Der reformierte Pfarrer ist von der Kirchgemeinde Altstätten und der Kantonalkirche beauftragt, in einem dreijährigen Projekt neue Formen von Kirche zu entwickeln – wie eben die «Puure-Kirche». Die drei Jahre sind nun um. Fazit: Das Angebot stösst auf reges Interesse. Rund 40 Personen, Bäuerinnen und Bauern kommen jeweils zum Treffen. Manche nehmen dafür eine längere Anfahrt in Kauf.

Unter die Dusche statt in die Kirche
Frage an Thomas Beerle: Weshalb brauchen gerade die Bauern eine eigene Kirche? Schliesslich gibt es auch keine speziellen Kirchen für Bäckerinnen und Büroangestellte? «Die Bauern und die übrige Gesellschaft haben sich auseinandergelebt», antwortet er. Der zeitliche Ablauf der Arbeit erschwere es, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. «Ein Milchbauer hat mir gesagt», erläutert Pfarrer Beerle, «er würde schon gerne in den Gottesdienst kommen. ‹Aber wenn du auf der Kanzel bist, stehe ich nach dem Melken unter der Dusche – wenn es rund läuft.›»

Bauer Ernst Leibundgut, der keine Milchkühe hat und sonntags oft in die Kirche geht, pflichtet ihm bei. «Wir möchten es den Bauern mit der ‹Puure-Kirche› deshalb möglichst einfach machen: Wir treffen uns zu einer passenden Zeit, sonntags um halb zwölf, die Kinder sind versorgt und es gibt etwas zu essen.»

Vom Alltag zur Bibel und zurück
Mittlerweile führen zwei Frauen ein Rollenspiel auf, eine Szene, die viele aus dem Alltag kennen: Es ist Heuwetter, der Arbeitstag ist proppenvoll. Und doch wäre es wichtig, sich etwas Zeit für sich zu nehmen, vielleicht mit dem Hofhund einen kurzen Spaziergang zu machen. «Eine Ausrede findet man immer», sagt Corina Leibundgut. «Aber schon ein paar Minütchen Spaziergang würden guttun. Diese Zeit kann man sich nehmen.» Dann kommt die Pointe: «Das gilt auch für das Gebet und das Lesen in der Bibel.» Nach dem Rollenspiel teilt man sich auf in drei Gruppen und diskutiert über das Thema. «Es ist eine Art dialogischer Gottesdienst», erläutert Pfarrer Thomas Beerle. «Wir kommen aus dem Bauernalltag zur Bibel, und von der Bibel wieder zurück zum Alltag.»

Offen für viele Konfessionen
Die Besucher der «Puure-Kirche» sind bunt gemischt. Es gibt Reformierte, Freikirchler, Katholiken – und viele, die gar keinen Bezug zu einer Kirche haben. Die «Puure-Kirche» ist «ihre» Kirche. Wie haben sie denn den Weg hierhin gefunden? «Wir haben viele Bauern besucht und eingeladen», erzählt Corina Leibundgut. Auch Beerle schaute bei Höfen vorbei, sprach mit den Bauern, lernte sie kennen. «Das schätzen sie sehr», sagt der Pfarrer, «sofern man das Gespür dafür hat, wann sie Zeit haben und wann nicht.» Dazu kamen Inserate im «St. Galler Bauer». So haben viele Bauern im Rheintal mitgekriegt, dass es die «Puure-Kirche» gibt.

«Ich erlebe bei Bauern oft ein Bewusstsein der Abhängigkeit, aber auch der Dankbarkeit.»
Thomas Beerle, Pfarrer


Das Leitungsteam der «Puure-Kirche» leistet viel. Und mit Ausnahme von Pfarrer Beerle ehrenamtlich. Was motiviert sie dazu? «Der Glaube gibt mir Halt im Leben, das motiviert mich», sagt Ernst Leibundgut. Auf seinem Hof in Altstätten hegt und pflegt er Heidelbeeren. «Wir investieren das ganze Jahr hindurch viel und müssen alles in drei Wochen Ernte wieder reinholen.» Doch in kürzester Zeit könne alles kaputt gehen, durch Hagel oder Schädlinge. Da stehe schnell einmal die Existenz des Betriebs auf dem Spiel. «Als Bauer merkst du: Du hast so vieles nicht in der Hand.» Beerle pflichtet ihm bei: «Ich erlebe bei Bauern oft ein Bewusstsein der Abhängigkeit, aber auch der Dankbarkeit.»

Am Nachmittag um vier Uhr brechen die letzten Besucher der «Puure-Kirche» auf. Das Bier ist getrunken, Würste und Kuchen sind gegessen, die Seele ist gestärkt. Abgeschlossen ist auch das dreijährige Pilotprojekt. Wie geht es nun weiter? «Wir möchten uns in zwei Gruppen aufteilen», verrät Pfarrer Beerle, «eine im Raum Altstätten und eine im Raum Werdenberg.» Partner sind die lokalen Kirchgemeinden. «Die ‹Puure-Kirche› trifft einen Nerv. Deshalb hoffe ich, dass es weitergeht.»

Text: Stefan Degen | Foto: zVg – Kirchenbote SG, September 2022

 

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