Die Quadratur des Gesangbuches
Im Advent 1998 führten die deutschschweizer Kirchen nach langer Vorarbeit das Reformierte Gesangbuch (RG) ein. Es enthält manche Perle, manches wirkt aber auch aus der Zeit gefallen. Dabei stellt sich die Frage, ob es zum Singen überhaupt ein Buch braucht.
Es gibt ein Bonmot: Zehn Jahre spricht vom «neuen Gesangbuch», zehn Jahre vom «Gesangbuch» und zehn Jahre vom «alten Gesangbuch». Wir wären also schon in der dritten Phase angelangt. Tatsächlich gibt es erste Überlegungen, das RG zu revidieren oder abzulösen – obwohl in den Deutschschweizer Kirchen mit «Rise up plus» ein zweites Gesangbuch mit anderer Ausrichtung zur Verfügung steht, das eine sofortige Überarbeitung des RG weniger dringlich macht.
Fehlender Mut für neue Lieder
Über inhaltliche Fragen wurde im Entstehungsprozess des RG engagiert gestritten. Es kamen unterschiedliche Kriterien zur Anwendung, die sich auch widersprachen: Die Liedtexte sollten verständlich sein und gleichzeitig poetischen Ansprüchen genügen, einer allgemeingültigen Grunderfahrung, aber auch dem biblischen Zeugnis entsprechen. Die Melodien sollten innerlich stimmig sein, mit dem Text harmonieren und für die Gemeinde singbar sein. Die Anwendung dieser Kriterien kam manchmal der Quadratur des Kreises gleich. Man hätte sich aber schon bei der Entstehung mehr Mut zu neueren Liedern gewünscht, etwa zum Lied «Da berühren sich Himmel und Erde», das aber immerhin ins «Rise up plus» aufgenommen und schnell beliebt wurde.
Manche Lieder im RG sind für heutiges Empfinden in ihrer Sprache fremd und in ihrer Theologie schwierig vermittelbar geworden. Sie gehen nicht mehr so leicht über die Lippen, RG 446 etwa: «Ach, das hat unsre Sünd und Missetat verschuldet, was du an unsrer Statt, was du für uns erduldet. Ach, unsre Sünde bringt dich an das Kreuz hinan: O unbeflecktes Lamm, was hast du sonst getan?» Das Singen in der Gemeinde schafft ein Gemeinschaftsgefühl über die eigene Person, die Gemeinde, die regionale Kirche, über Konfessionen und Kirchen hinaus. Das zeigt sich auch im RG: 238 Lieder und Gesänge tragen das Zeichen «+». Sie sind auch im katholischen und im christkatholischen Gesangbuch der Deutschweiz zu finden.
St. Galler waren die Ersten
Im reformierten Gottesdienst ist der Gesang eine wesentliche Form der Gemeindebeteiligung. St. Gallen hatte 1533 bereits ein Kirchengesangbuch, das erste auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Es verdankt sich Dominik Zili, der als Lehrer und auch als Pfarrer an der Stadtkirche von St. Laurenzen wirkte, der für seine Schüler und die Gemeinde Lieder sammelte.
Das heutige Reformierte Gesangbuch ist mehr als nur eine Liedersammlung für den Gemeindegottesdienst. Es ist liturgisches Rollenbuch der Gemeinde, Andachtsbuch für Gruppen und tröstender Begleiter in allen Lebenslagen. Das ganze geistliche Leben ist dabei im Blick: In der Gemeinde, in der Seelsorge, in der Familie, für sich persönlich. Es bietet neben Liedern auch Gebete, Psalmen und biblische Lesetexte, Tagzeitenliturgien und Gedichte.
Versteckte Perlen
Noch gibt es im RG viele Perlen zu entdecken. Etwa das Lied «Herr, lass deine Wahrheit uns vor Augen stehen» (RG 824). Es hat eine interessante Entstehungsgeschichte: Komponist Samuel Rothenberg war als «Sing-Pfarrer» teil der «Bekennenden Kirche», in der auch die Liederdichterin engagiert war. Sie hörte Vorlesungen von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer und war nach dem Krieg Mitglied der «Moralischen Aufrüstung». Das Lied atmet den Geist dieser Bewegung.
Braucht es ein Buch?
Wenn dereinst die Arbeit an einem neuen Gesangbuch aufgenommen wird, kommen neue Herausforderungen dazu: Werden wir noch ein gedrucktes Buch in den Händen halten? Oder werden die Lieder elektronisch bereitgestellt? Wie kann es Spiegel unserer Zeit sein und doch eine Verbindung zu den Lebens- und Glaubenswelten unserer Vorfahren schaffen? Der ganze theologische, spirituelle und musikalische Reichtum unserer eigenen Kirche soll zum Ausdruck kommen.
Text: Hansueli Walt, Pfarrer, St. Gallen | Foto: Stefan Degen – Kirchenbote SG, Oktober 2020
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