Die St.Galler Stadtheilige tritt aus ihrem Schatten
«Wir haben die Chance, die weibliche Kraft der Wiborada von St.Gallen für uns heute neu zu entdecken. Der Wert und die Energie dieser Frau bergen für die Stadt und den Kanton St.Gallen ein grosses Potenzial», ist Hildegard Aepli, Initiantin des ökumenischen Projektes «Wiborada 21», überzeugt. «Mit Wiborada können wir der Frage der Gleichberechtigung der Frau in Kirche und Gesellschaft Raum geben.»
Die Seelsorgerin Hildegard Aepli schätzt die Eigenständigkeit und die Spiritualität der mittelalterlichen Inklusin Wiborada sehr. «Zuerst prüfte sie sich als Einsiedlerin in St. Georgen, dann liess sie sich definitiv bei der Kirche St. Mangen einmauern. Ihre Zelle hatte ein Fenster nach innen, auf den Altar der Kirche, und ein Fenster nach aussen, durch das sie als Ratgeberin mit den Menschen in Kontakt stand.»
Historisch, nicht fiktiv
«Wiborada ist keine fiktive oder erfundene Gestalt. Ihr Leben ist historisch verbürgt durch den Eintrag ihres Namens im Professbuch der St.Galler Mönche, nachdem sie 926 in ihrer Zelle von heidnischen Kriegern erschlagen worden war.» Dieser Eintrag in dem Rechtsbuch der Mönche – ein reines Männerbuch – sei einzigartig. «Rund um den Namen von Wiborada finden sich Namen von Männern und Frauen, die eindeutig später dazugeschrieben wurden und die eine besondere Nähe zur ersten in einem offiziellen Verfahren heiliggesprochenen Frau der Kirche suchten. Das Professbuch mit dem Eintrag der Wiborada von St.Gallen gilt daher als Reliquie und ist bis heute im Stiftarchiv St.Gallen zu besichtigen, erklärt die Seelsorgerin.»
Vergessene Geschichte
«Vielen Menschen sagt der Name Wiborada gar nichts. Das Erbe dieser starken Frau aus dem Mittelalter hat das gleiche Schicksal erlitten, wie das vieler anderer Frauen auch. Das Projekt ‚Wiborada 21‘ möchte diesen Schatz weiter heben, die Retterin und Bewahrerin St.Gallens ins Bewusstsein bringen. Sie hatte 925 die Mönche vor dem Ungarneinfall gewarnt, die Mönche hörten auf sie und brachten ihre Handschriften und Klosterschätze rechtzeitig in Sicherheit. Und sie liessen das Kloster und die Stadt evakuieren, sodass die Ungarn beim tatsächlichen Einfall 926 eine leere Stadt vorfanden», erzählt Hildegard Aepli. «Wiborada von St.Gallen darf als Retterin des Wissens, der Schätze und der Menschen angesehen und hervorgehoben werden!»
Eine emanzipierte Frau
Im Mittelalter konnten Frauen ihren Lebensentwurf kaum selbst wählen und darüber entscheiden. Vorgesehen waren die Ehe oder ein Klostereintritt. «Wiborada wollte für sich etwas anderes und entschied sich für ein radikales Leben als Inklusin. Das war die einzige Möglichkeit, nicht von einem Mann oder einer Ordensoberin abhängig zu sein. Wiborada entschied sich für den Alleinstand, für ein eigenständiges und unabhängiges Leben, für das, was sie für sich selbst als erfüllend empfand. Aus diesem Grund können wir heute auf sie als eine unglaublich starke, emanzipierte Frau schauen.»
Nach innen und nach aussen
Carola Zünd, Sozialarbeiterin in der Seelsorgeeinheit Zentrum, ist eine von neun Frauen und Männern, die sich im nächsten Frühling im Rahmen des Projektes «Wiborada 21» als Inklusen bei der Kirche St. Mangen einschliessen lässt. «Ich freue mich auf eine Woche Rückzug, eine tiefe Einkehr in mein Inneres an einem Ort, wo eine ganz besondere Frau gelebt und gewirkt hat“, sagt Carola Zünd. „Ich werde viel meditieren, sitzen auf dem Kissen, und vielleicht auch auf meiner Indianerflöte spielen.» Die Sozialarbeiterin findet es schön, wenn die Leute aus der Stadt Klänge aus der Zelle hören können. Respekt spürt sie vor dem täglich zweimal geöffneten Fenster nach aussen. «Wird es mir gelingen die Tage und Nächte in Kontemplation zu verbringen und gleichzeitig offen zu sein für die Menschen, die ans Fenster kommen?»
Text: Evelyne Graf, Skizzen zur Wiborada-Zelle von Architekt Daniel Cavelti – Kirchenbote SG, 16. November 2020
Die St.Galler Stadtheilige tritt aus ihrem Schatten