«Die Taliban gehen von Tür zu Tür – sie wollen wissen, wer da wohnt»

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27.10.2021
Nach dem Abzug der US- und NATO-Truppen aus Afghanistan überrannten die Taliban im Sommer das ganze Land. Wie geht es den Menschen, und wie geht es den wenigen Christen unter der neuen Herrschaft? Jan Vermeer, Kommunikationsleiter von Open Doors Asien, war in Kontakt mit Menschen im Land.

Jan Vermeer, wie sieht die Situation derzeit in Afghanistan aus?

Jan Vermeer: Die Situation ist immer noch sehr chaotisch. Die Taliban versuchen nicht nur im ganzen Land und nicht nur auf nationaler Ebene die Kontrolle zu erlangen, sondern auch in allen kleinen Bezirken, Städten und Dörfern, indem sie eigene Gouverneure und eigene Bürgermeister einsetzen. Viele Menschen haben grosse Angst vor den Taliban, die schon angefangen haben, einige Dinge umzusetzen, die man aus der Scharia kennt. In den sozialen Medien kursieren Bilder von grausamen Dingen. Zum Beispiel wird einem Dieb die Hand abgehackt.

 

«Wenn du vom Islam abfällst, bist du ein Abtrünniger. Die Strafe ist die Enthauptung.»

 

Wir wissen auch, dass die Taliban von Tür zu Tür gegangen sind. In einigen Gebieten tun sie das anscheinend immer noch. Sie wollen herausfinden, wer in welchem Haus wohnt. Wohnen dort junge Frauen, die sie später vielleicht mitnehmen können? Gibt es junge Männer oder Teenager, die sie vielleicht für ihre Armee gebrauchen können? Oder Leute, die dem Islam nicht treu sind, zum Beispiel Homosexuelle oder Christen? Sie wollen herausfinden, wer ihnen gegenüber loyal, wer nicht loyal ist. Besonders diejenigen, die dem Westen gegenüber zugewandt waren, sind in grosser Gefahr. Und auch wenn Christen nichts mit den westlichen Armeen zu tun hatten, stehen sie nur wegen ihres Glaubens, den sie geheim halten, in Gefahr, mit dem Westen und US-Amerikanern in Verbindung gebracht zu werden.

Weshalb sind Christen unter den Taliban bedroht?

Bedroht sind insbesondere Christen mit muslimischem Hintergrund. Die Ursache liegt in einer äusserst rigiden Auffassung des Islams. Ein Muslim ist in den Augen der Taliban dann ein guter Muslim, wenn er die islamischen Praktiken und Gesetze so streng wie möglich befolgt.

 

«Die Christen haben Angst: Was weiss mein Nachbar über mich? Was wird er über uns sagen? Vielleicht nur, um sich selbst zu retten oder um sich als loyal gegenüber den Taliban zu erweisen.»

 

Aber wenn du Christ bist und einen muslimischen Hintergrund hast, heisst das, dass du von der höchsten und reinsten Religion zu einer niederen Art gewechselt hast. Wenn du also den Islam verlässt, bist du ein Abtrünniger, ein Verräter des Islam. Die Strafe ist die Enthauptung. Das kennen wir vom IS im Irak und in Syrien, als er dort das Sagen hatte. Wir befürchten das nun auch in Afghanistan.

Haben Sie mitbekommen, ob es Fälle gab, in denen Christen gejagt oder gefoltert wurden?

Noch nicht, und es ist auch sehr schwer zu verifizieren. Es gibt nur sehr wenige Christen in Afghanistan bezogen auf die Bevölkerung. Das kann jetzt ihr Vorteil sein, denn es ist ziemlich schwer, Christen zu finden. Aber wir wissen von Menschen, die bedroht wurden, weil sie Christen sind. Sie haben Angst und machen sich Sorgen: Was weiss mein Nachbar über mich? Was wird er über uns sagen? Vielleicht nur, um sich selbst zu retten oder um sich als loyal gegenüber den Taliban zu erweisen. Vielleicht werden jetzt manche Christen verraten. Die Befürchtungen sind gross. Aber es ist schwer nachzuprüfen, was vor Ort genau passiert.

Interview: Open Doors Deutschland | Foto: Wikimedia / Screenshot Voice of America – Kirchenbote SG, November 2021

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