«Dreh- und Angelpunkte sind interessante Online-Angebote»

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10.01.2023
Lukas Golder, Politik- und Medienwissenschafter bei Gfs, ist bekannt als Wahl- und Abstimmungsexperte beim Schweizer Fernsehen. Er plädiert dafür, dass die Kirche versucht, die Online-Welt der Menschen für sich zu gewinnen.

Lukas Golder, interessieren Sie sich persönlich für Religion?
Als Politologe interessiert mich die Schnittstelle zwischen Staat und Religion. Ich beobachte, dass sehr viele Institutionen unter Druck sind. Auch die reformierte Kirche, die für die Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt gerade im Umgang mit Themen wie dem Altwerden oder der Einsamkeit, was ich als sehr wertvoll empfinde.

Ich frage anders: Welche Rolle spielt die Religion für Sie?
Ich bin reformiert aufgewachsen. Der Glaube ist in meiner Familie ein sehr zentrales Thema. Lukas, mein Name, hat einen religiösen Hintergrund. Meine Mutter stammt aus einer Pfarrersfamilie, mein Vater aus einer Berner Freikirche. Nach der Heirat mit einer reformierten Pfarrerstochter ist der Kontakt zur Freikirche eingeschlafen.

Wie könnte man einen nüchternen Forscher, als den Sie sich selbst beschreiben, wieder für die Kirche begeistern?
Intellektuell gesehen wird das schwierig. Ich denke, ich würde mich wieder mehr für die Kirche interessieren, wenn man die Präsenz der Kirche spürt, wenn sie mehr in der Lebenswelt von mobilen Menschen stattfinden würde.

Bei vielen Kirchen zeigen die Mitgliederzahlen nach unten. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Die Kirche hat eine wichtige Rolle, sie ist für die Kohäsion, den Zusammenhalt der Gesellschaft, verantwortlich. Daran muss sie sich messen. Zentral sind die Berührungspunkte, welche die Kirche mit den Menschen hat. Ein Kirchengebäude ist kein Berührungspunkt für mich. Auch Rituale nicht. Diese spielen für gewisse Menschen zwar noch eine Rolle, doch sie sind ambivalent.

Wie meinen Sie das?
Wenn ein Pfarrer jemanden, der aus der Kirche ausgetreten ist, beerdigt, ist das eine Werbeveranstaltung. Oder wenn agnostisch lebende Menschen in einer Kapelle vom Pfarrer gesegnet werden, ist das Folklore.

Wie kann die Kirche neue Mitglieder gewinnen?
Es bringt nichts, die Kirchenmitglieder in einem sonntäglichen Ritual in der Kirche zu versammeln. Das, was die Kirche als Gemeinschaft gut macht, sollte besser erkennbar sein für neue Mitglieder. Zudem bin ich überzeugt davon, dass sich aufgrund der neuen technischen Möglichkeiten grosse Chancen ergeben. Die Kirche sollte wieder die Berührungspunkte zu einer jungen Gesellschaft finden, die viele Freizeitangebote hat, sehr viel Zeit am Handy und im Internet verbringt, wo neue Communitys entstehen. Die Kirche sollte versuchen, diese digitale Welt für sich zu gewinnen.

Wie würde das konkret aussehen?
Dreh- und Angelpunkte sind interessante Online-Angebote, mit gut aufbereiteten Inhalten auf der Website, die man auch mobil ansehen kann. Zudem sollte man mit den sozialen Kanälen verbunden sein. Youtube und Videos sind heute sehr wichtig. Ein Pfarrer könnte beispielsweise via WhatsApp einen Link zur Kirche Luzern weiterleiten, die sich mit Jugendlichen auf dem Weihnachtsmarkt trifft, danach einen Waldspaziergang macht, mit einer Abendpredigt. Wenn man diese Veranstaltung via WhatsApp verbreitet, erreicht man sehr rasch sehr viele Menschen. Zusätzlich könnte man auf die Veranstaltung im Vorjahr hinweisen, die ein Riesenerfolg war, und ein Video davon auf der Website zeigen.

Um das professionell zu machen, muss man viel Geld in die Hand nehmen – bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen der Kirchen.
Eine Online-Strategie sollte mittlerweile Teil einer professionellen Organisation sein. Es gibt zahlreiche finanziell schwächere Organisationen mit viel besserem Online-Auftritt als jenem der Kirche. Das ist auch meine Kritik an der Kirche: Sie erhält sehr viel Unterstützung vom Staat. Dennoch bekommt sie nicht viel PS auf den Boden. Wenn das der Fall ist, muss man halt schauen, welche Leistungen man reduzieren kann, um den Boliden auf den Boden zu bringen.

Digitale Angebote werden von der älteren Generation weniger genutzt. Wie können diese angesprochen werden?
Gerade für ältere Menschen darf der ritualisierte Teil der Kirche nicht aufgegeben werden. Das wäre sehr drastisch, speziell für Leute, die nicht gut mit dem Handy umgehen können, eine Sehschwäche haben oder nicht mehr hören können. Aber umgekehrt gibt es unglaublich viele digitale Angebote, mit denen die Kirche auch in deren Leben stattfinden kann. Das Potenzial ist sehr hoch.

Welche Themen sind Menschen heute wichtig?
Haupttrends in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sind die Digitalisierung, die Individualisierung und die Urbanisierung. Der Zugang und der Umgang mit der Technologie verändern die Gesellschaft. Die christlichen und menschlichen Grundwerte hingegen ändern sich nicht. Umwelt, Klimawandel, Mikrosolidarität spielen heute eine Rolle, man zeigt sich rasch digital solidarisch, engagiert sich aber nicht dauerhaft für ein gesellschaftspolitisches Thema.

Sollte sich die Kirche zu politischen Themen äussern?
Das ist Aufgabe der NGOs, Caritas und Heks. Äussern sie sich beispielsweise zu einer Konzernverantwortungsinitiative, ist das legitim. Politische Kampagnen sind ein Pfeiler der Tätigkeit von NGOs. Umgekehrt hat die institutionalisierte Kirche eine übergeordnete Rolle. Die Kirche sollte nicht zu jedem politischen Vorstoss eine Meinung abgeben. Bei interessengeleiteten Vorstössen, die stark polarisieren, riskiert die Kirche, einen Teil ihrer Mitglieder zu verlieren. Solche Vorstösse erhöhen einzig die Aufmerksamkeit.

Wie gut ist die Landeskirche Luzern Ihrer Meinung nach für die Zukunft gerüstet?
Ich bin beeindruckt von dem, was in der Reformierten Kirche Luzern schon alles passiert. Das Engagement ist spürbar, ebenso, dass man versucht, kommunikativ erlebbar zu sein. Die Landeskirche ist noch stark kommunal organisiert, was ich persönlich sehr schätze. Dadurch muss man jedoch auch versuchen, jeden Einzelnen zu bewegen. Man muss visionär sein und versuchen, erfolgreiche Beispiele zu schaffen. Das Bewegen von Institutionen ist eine extreme Herausforderung. Ich selbst beteilige mich im Februar zum zweiten Mal an der digitalen Grossgruppenkonferenz der Landeskirche Luzern. Ich bin erstaunt, wie viele Menschen jeweils dazu bewegt werden, mitzumachen.

Interview: Carmen Schirm-Gasser, kirchenbote-online

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