Walter Nigg war Gemeindeparrer in Stein

Ein Stein des Anstosses in Stein

von Lars Syring
min
01.05.2024
Die Kirchgemeinde Stein hatte vor bald 100 Jahren einen jungen Pfarrer, der später berühmt und für die akademische Welt zum Stein des Anstosses wurde. Walter Nigg war ein Lehrer der Kirchengeschichte, der sich vor allem für die inneren Erfahrungen der Menschen interessierte.

Mit seiner Frau Lily trat Walter Nigg am 1929 in Stein seine erste Pfarrstelle an. Die beiden blieben zehn Jahre. 1978 erinnerte sich Nigg an diese Zeit und skizziert in seiner typischen Art neben der äusseren Landschaft auch die innere Welt der Menschen im Appenzellerland. Er schreibt: «Man muss dieses Ländchen lieben und seine Schönheiten kennen, wenn man nur ein Wort sagen will. Die appenzellische Landschaft ist überaus reizvoll: Die hügelige Gegend verleiht ihr einen ungemein belebenden Akzent. Die schmucken Dörfer liegen auf den Anhöhen, und die Täler sind kaum bewohnt. Dies färbt ein wenig auf die Leute ab, schauen sie doch oft gerne von oben auf die Dinge herab und grübeln nicht sonderlich über ihren Sinn nach. Die Appenzellerhäuschen haben ihren eigenen Stil; aus Holz gebaut, von der Sonne ganz dunkel gebrannt, sind sie hübsch anzusehen.

Ist ihr Besitzer vermögend, lässt er sein Haus malen, freilich zuerst außen, und erst nachher denkt er daran, es auch innen hübsch zu machen. Man darf diese Vorliebe für die Äußerlichkeiten nicht übersehen. Der Appenzeller liebt Ordnung; in der Regel sind die Häuser mit den getäferten Fassaden und den blitzblanken Fenstern, die Vorplätze und selbst die Straßen in mustergültigem Zustande. In seinem Wesen ist der Appenzeller freundlich, namentlich ins Angesicht, er liebt es, lustig zu sein, und nur zu schnell verliert er den Boden unter den Füßen, wenn etwas schiefgeht. Er hängt mit der ganzen Seele an seiner Heimat und kämpft geradezu gegen ein dauerndes Heimweh, wenn er ausserhalb des Kantons leben muss.»

 

Erfolgreicher Autor

Schon während seiner Zeit in Stein arbeitet Nigg an seinen Büchern über Mönche, Heilige und Ketzer. Er hält Vorlesungen an der Universität in Zürich. Von seinem 1946 erschienen Buch «Grosse Heilige» werden weltweit über 3 Millionen Exemplare verkauft. Das ist für ein theologisches Buch sehr beachtlich. Nigg geht in seinen zahlreichen Büchern einen speziellen Weg. Er personalisiert die Kirchengeschichte. So schildert er nicht nur, was passiert ist. Ihn interessiert vor allem, welche inneren Erfahrungen zum Beispiel Theresa von Avila, Meister Eckhart oder – Niggs grosses Vorbild – Gerhard Tersteegen gemacht haben. Denn es müssen grosse Erfahrungen gewesen sein, die ein Menschenleben so in den Dienst Gottes gezogen haben.

 

Wichtige Impulse der Ketzer

Schon in Stein arbeitet Nigg an seinem Lebensthema. Immer wieder ist die Heiligung Zentrum seiner Predigten. Um Missverständnisse bei den Menschen in Stein zu vermeiden, spricht er vorsichtig von «innerer Formung». Als Protestant lehnt er die Heiligenverehrung ab. Er sieht sie als Vorbilder, von denen wir viel lernen können: «Das Leben der Heiligen mit ihrem Ringen und Kämpfen, mit ihrem Dulden und Leiden, mit ihren oft so unvergleichlichen Aussprüchen und Einsichten in das Göttliche ist nun lesenswert.» Sorgfältig spürt er diesem inneren Weg in seinen Darstellungen nach. Und so entdeckt er auch bei den Ketzern wichtige Impulse, die nicht einfach so beiseite geschoben werden dürfen. Auch in ihnen leuchtet die Wahrheit Gottes auf. Heiligung ist für ihn ein Übungsweg, wie wir unseren Willen mit dem Willen Gottes überein bringen.

 

Heilige in Stein

In der damals sehr antimystischen Stimmung an der Universität blieb Walter Nigg zeitlebens ein einsamer Rufer in der Wüste. Aber er fand Heilige in Stein. Er schreibt: «Ich habe einfache Bauersfrauen gekannt, deren Bildung gewiss nicht groß war, die aber durch ihre Gradheit, Unbestechlichkeit und Verwurzelung das Bibelwort ,Der Mensch lebt nicht vom Brot allein‘ so leuchtend verkörpert haben, dass ich mir daneben ganz klein vorkam. Sie sind gestorben und vergessen, sind aber nach meiner Überzeugung in das Buch des Lebens eingetragen worden, und wessen Name dort steht, ist ein Heiliger, wenn auch ein unbekannter Heiliger.»

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