Eine Frage der Sichtweise
Irgendwann so zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr ist es so weit, teilt mir der Online-Artikel mit. Kein Grund zur Sorge. Ein völlig natürlicher Prozess. Immerhin: Ich hab’s bis knapp vor den Fünfzigsten geschafft.
Mit Leichtigkeit und heiterer Eleganz führte ich am Abend noch den Nähfaden durch das Nadelöhr. Mit jovialer Lässigkeit tippte ich den fast vergessenen Geburtstagsgruss im Halbdunkel noch in die WhatsApp-Nachricht. Nichts ahnend.
Am nächsten Morgen, an einem hundsgewöhnlichen Dienstag, stand sie unvermittelt vor mir in ihrer trotzigen Entschiedenheit. Die Buchstaben schwammen davon, Faden und Öhr versäumten sich mehrmals. Ich musste der Tatsache ins Auge blicken: Mich hat die Altersweitsichtigkeit ereilt.
Das ist jetzt ein paar Wochen her. Zu meiner Lesebrille habe ich mittlerweile ein freundschaftliches Verhältnis.
An diesem Dienstagvormittag überkam mich allerdings eine gewisse Wehmut. Die Unausweichlichkeit der Vergänglichkeit stand mir vor Augen. Ich empfand Verlust. Meine ausgezeichnete Sehschärfe für alles Naheliegende hat mir immer gute Dienste geleistet. Nun gehört sie der Vergangenheit an.
Ich begann darüber nachzudenken, wovon ich in meinem Leben schon Abschied nehmen musste: Von Plänen und Visionen. Von Liebgewonnenem und Gewohntem, von Teilhabe und Zugehörigkeit. Von Räumen, Orten und Menschen. Sie gehören der Vergangenheit an. So gesehen, viele Verluste. Viel Unwiederbringliches, Nichtwiederherstellbares.
In dieser Zeit fiel mir ein Zitat in die Hände. Der Neurologe, Psychiater und Begründer der Logotherapie Viktor Frankl schreibt trostvoll: «Für gewöhnlich sieht der Mensch nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit; was er übersieht, sind die vollen Scheunen der Vergangenheit. Im Vergangensein ist nämlich nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen.»
Ich atme mich hinein in dieses Bild. Ich stelle mir vor, wie uns allen zu Beginn des Lebens eine fachmännisch gezimmerte, wettersichere «Schüür» zugeteilt wird. Gegenwart um Gegenwart, Lebensmoment um Lebensmoment, wird eingebracht. Nichts geht verloren. In ihr ist unverlierbar gesammelt und geborgen, was mir wichtig und gegenwärtig war. Hier hat alles seinen Platz und bleibt als einmalige Wirklichkeit meiner einzigartigen Lebensgeschichte.
So gesehen: Ja, die Linsenelastizität nimmt ab. Ja, die Lebensgestaltungsmöglichkeiten verringern sich. Aber ich merke, wie sich ein anderer Blick zu schärfen beginnt:
Es ist der alterssichtige Blick für die Weite; der Fernblick der Weitsichtigkeit, der seine Sehschärfe aus Lebenserfahrung gewinnt. Er würdigt den Reichtum des Eingebrachten. Er betrachtet sorgsamer, geduldiger und sieht nicht nur, was vor Augen ist. Er fokussiert das Gute im Momentanen, stiert sich aber nicht fest. Er sieht nicht vornehmlich das Davonschwimmende, sondern das immer noch Zufliessende. Er hat ein scharfes Auge für das offene, innere Land und erspäht es auch im Gegenüber. Fernsichtig sieht er Bedeutsames und weitsichtig das Wesentliche.
So gesehen ist die Altersweitsichtigkeit kein Verlust, sondern eine kostbare, neue Gabe. Ihrem völlig natürlichen Prozess überlasse ich mich gerne.
Und wenn Sie beim nächsten Gespräch ein bisschen angeben wollen: Die Alterssichtigkeit heisst im Fachjargon Presbyopie.
Natasha Hausammann
Natasha Hausammann ist freischaffende Sängerin, Kirchenmusikerin und administrative Mitarbeiterin der Evang.-ref. Kirche des Kantons St Gallen. Sie ist zudem in Ausbildung zur logotherapeutischen Beraterin (sinnzentrierte Psychotherapie) am Institut für Logotherapie & Existenzanalyse in Chur.
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