«Eine Hälfte von mir ist noch im Iran, die andere Hälfte lebt hier»
Die Geste lässt mir das Blut in den Adern gefrieren: eine Hand, die die Kehle durchschneidet. Immer wieder taucht die Handbewegung auf, als mir Reza* von seiner Vergangenheit im Iran erzählt. Sein Blick ist gefasst. Er wirkt, als fehle ihm die Kraft für Tränen. Dabei scheint nichts die Idylle zu trüben, als ich an diesem strahlenden Frühsommertag das Bundesasylzentrum (BAZ) Altstätten besuche. Es ist umgeben von Schrebergärten, Einfamilienhäusern und kleinen Wohnblocks. Hier ist die Welt in Ordnung. Nur den Nachbarskindern ist ein Huhn ausgebüchst.
Der Öffentlichkeit ist der Zugang zum BAZ nur in Ausnahmefällen gestattet. Als Türöffner fungiert Pfarrer Gregor Weber, der mich auf meinem Besuch begleitet. Er ist reformierter Seelsorger im BAZ Altstätten, spricht Persisch und Arabisch, er kennt Betreuungspersonal und Asylsuchende.
Ă–ffentliche Hinrichtung
Einer seiner Bekannten ist Reza: «Eine Hälfte von mir ist im Iran geblieben, die andere lebt hier.» Während um uns herum der Speisesaal für das Mittagessen hergerichtet wird, erzählt er mir seine Geschichte: Reza ist im Iran zum Christentum konvertiert. Seither fürchtet er um sein Leben. «Niemand steht im Iran offen zu seinem christlichen Glauben», erzählt er. Er besuchte illegale Hauskirchen, wo vieles verdeckt abläuft und man voneinander nur den Vornamen kennt. Die Angst wurde so gross, dass er alles zurückliess: seinen guten Job in der Ölbranche, seine Frau, seinen Sohn. «Der muslimische Glaube war für mich steinig. Bei Jesus habe ich eine Liebe gefunden, die ich so nicht gekannt habe.» Reza ist Mitte dreissig und stammt aus einer Stadt im Zentrum des Iran. Auf genauere Angaben im «Kirchenboten» möchte er verzichten. Zum Schutz seiner Frau, die ebenfalls am Christentum interessiert ist.
Reza trat im Iran zum Christentum ĂĽber und fĂĽrchtete um sein Leben. Er liess alles zurĂĽck: seinen guten Job, seine Frau, seinen Sohn. Nun sucht er eine neue Heimat.
Im Iran sind traditionelle Minderheiten wie armenische Christen oder Zoroastrier per Verfassung geschützt. Andere werden verfolgt: Bahai, sunnitische Muslime, Atheisten. Und Konvertiten wie Reza. Denn Apostasie, der Abfall vom Islam, kann im Iran hohe Gefängnisstrafen zur Folge haben, wo Folter laut Amnesty International weit verbreitet ist. Auch die Todesstrafe werde verhängt, etwa für vage formulierte Straftatbestände wie «Beleidigung des Propheten» oder «Feindschaft zu Gott». Beim Weltverfolgungsindex des christlichen Hilfswerks Open Doors erreicht der Iran regelmässig Spitzenplätze. Mit achtzehn Jahren sah Reza bei einer öffentlichen Hinrichtung zu. Er illustriert dies mit der Geste der durchschnittenen Kehle.
Essen in Schichten
Inzwischen ist das Mittagessen bereit: Fischknusperli. Wegen des Coronavirus essen die Asylsuchenden in Schichten. Securitas-Mitarbeiter, die ich im BAZ auf Schritt und Tritt antreffe, kontrollieren, dass die Abstands- und Hygienevorschriften eingehalten werden. Einer schickt uns freundlich nach draussen. Der Hof ist eingezäunt, angrenzend an Schrebergärten. Eine Wiese, ein Schaukelpferd, Holztische. Wir setzen uns an einen freien Tisch und führen das Gespräch fort.
Pizza, Spaghetti, Hamburger: eine Hitliste wie aus einem Schweizer Klassenlager.
Seit knapp vier Monaten lebt Reza in der Schweiz. Viel mehr als das BAZ kennt er nicht. «Aber ich habe Freunde gefunden», erzählt er: «Zum Beispiel Rolf und Stefan.» Seelsorger Weber hat die Kontakte vermittelt. Zusammen mit Rolf besucht Reza eine Bibelgruppe. Im BAZ fühle er sich wohl. «Die Securitas und die Betreuer behandeln mich gut», findet er. «Hier habe ich keine Angst.»
Auch dem Leiter Betreuung des BAZ Altstätten ist wichtig, dass sich die Asylsuchenden wohl fühlen: «Wenn das Zusammenleben gut funktioniert, wenn die Asylsuchenden einer Beschäftigung nachgehen und ein Lächeln auf dem Gesicht haben, dann wissen wir: Wir machen unsere Aufgabe gut.» Besonders freut es ihn, wenn sich ehemalige Bewohner melden. Wie zwei afghanische Knaben, die er später wieder angetroffen habe, die auf ihn zugerannt seien und gefragt hätten: «Grüezi, kennen Sie mich noch?» Auch wenn die Asylsuchenden maximal vier Monate hier seien, so baue man doch eine gewisse Beziehung zu ihnen auf: «Wir sind ja alle Menschen.»
Streit um stinkende Socken
Inzwischen ist auch der stellvertretende Leiter Betreuung eingetroffen. Der Sozialpädagoge ist gebürtiger Iraner und spricht fliessend Deutsch, Persisch, Arabisch und Kurdisch. Er führt mich durch das Zentrum und hilft beim Übersetzen. Stolz ist er auf das Kinderspielzimmer, die hauseigene Wäscherei und die Werkstatt. Dort haben Asylsuchende aus alten Paletten Gartenmöbel hergestellt, die vor dem Eingang des Zentrums zum Verweilen einladen. «Manchen Asylsuchenden tut es gut, das Zentrum zu verlassen und hier draussen zu sein», erklärt er. «Dann fühlen sie sich freier.» Als wir hinausgehen, kontrolliert ein Securitas-Mitarbeiter einen Asylsuchenden. Eine Leibesvisitation, wie man sie von Fussballspielen kennt. Das sei zu ihrer eigenen Sicherheit. Piktogramme weisen darauf hin, was im BAZ verboten ist: Alkohol, Drogen, Waffen und Lebensmittel, die schnell vergammeln.
Obschon das BAZ Altstätten einen friedlichen Eindruck macht, gibt es immer wieder Konflikte. «Manchmal kommen Asylsuchende alkoholisiert ins Zentrum. Oder die Stimmung ist schlecht, weil sie einen negativen Asylentscheid erhalten haben», sagt der stellvertretende Leiter Betreuung. Streit entzünde sich an alltäglichen Dingen, wie an stinkenden Socken. «Die Asylsuchendem haben halt weniger Möglichkeiten, einander aus dem Weg zu gehen», resümiert er. Zum Zeitpunkt meines Besuchs ist die Situation allerdings entspannt: Aufgrund tiefer Asylzahlen ist das Zentrum nicht mal zur Hälfte belegt.
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Poulet, Poulet, Poulet
Inzwischen ist das Mittagessen vorbei. Vier Asylsuchende unterstützen den Koch und den Zivi bei der Zubereitung der Mahlzeiten. «Das Kochen selbst ist keine grosse Herausforderung», findet der Koch, während er den Steamer reinigt. «Aber die Betreuung, die Arbeit mit den Menschen, das gefällt mir unglaublich.» Anspruchsvoll seien die dauernden Wechsel im Küchenteam. Es hat einen Turnus von zwei Wochen, denn der Küchendienst ist beliebt. Doch auch zwischendurch gibt es immer wieder Wechsel. «Zur Verständigung arbeiten wir viel mit Bildern.»
Woher aber weiss der Koch, was die AsylÂsuchenden gerne essen, die aus aller Welt stammen? «Wir haben Erfahrung», meint er, «und wissen, was ankommt.» Beliebt seien neben Fischknusperli auch Spaghetti, Pizza oder Hamburger, «und natĂĽrlich Poulet: Pouletschenkel, Pouletgeschnetzeltes, PouletÂflĂĽgeli, Pouletragout.» – Eine Hitliste, wie sie auch aus einem Schweizer Klassenlager stammen könnte.
Ein Wasserhahn fĂĽr 1300 Menschen
Auch Yasser* war schon Teil des Küchenteams. Der 23-jährige hat bereits in Afghanistan als Koch gearbeitet, bevor er vor dem Krieg floh. Seine Augen leuchten, als ich ihn frage, ob es ihm hier gefällt. «Ich war dreieinhalb Jahre im Camp Moria», erzählt er. «Überall ist es besser als dort.»
Das Flüchtlingslager Moria befindet sich auf der griechischen Insel Lesbos und ist völlig überfüllt. Die Zustände sind katastrophal: Drei Ärzte sind für 20 000 Flüchtlinge zuständig, auf 1300 Menschen kommt ein Wasserhahn. Yasser hält sich die Nase zu, als er von Moria erzählt. In Altstätten aber ist er fröhlich: «Hier ist es sauber», lacht er.
Yasser hat bereits beide Interviews zu seinem Asylverfahren abgeschlossen. Während er auf den Entscheid wartet, besucht er den hausinternen Deutschkurs und arbeitet im Beschäftigungsprogramm mit, beim Abfallsammeln zum Beispiel. «So geht die Zeit schneller vorbei», findet er. Allerdings vermisst er seine Mutter, die noch in Afghanistan lebt. «Seit sieben Monaten habe ich nichts mehr von ihr gehört», beklagt er. Denn seine Mutter könne weder lesen noch schreiben: «Das Telefon hält sie verkehrt rum.»
Yassers Freund Omid*, 17-jährig, hat heute seinen Asylentscheid erhalten: Er bekommt Bewilligung F, wird also vorläufig aufgenommen. Omid darf nun eine Arbeitsstelle annehmen oder eine Lehre suchen. «Ich möchte Bauer werden», erzählt er von seinen Träumen und zeigt nach draussen ins Grün, «aber ohne Vieh. Ich möchte Gemüse und Getreide anbauen.» Mit dem Asylentscheid wird Omid dem Kanton Thurgau zugewiesen, der nun für ihn zuständig ist: Er wird ihm einen Beistand zur Seite stellen, da Omid noch minderjährig ist. Im Thurgau lebt bereits seine Tante, die er nun öfter besuchen kann.
Versteckt zwischen GĂĽterwagen
Auch Rezas Zeit im BAZ geht zu Ende. Einen Asylentscheid hat er aber noch nicht erhalten. Er kommt ins erweiterte Verfahren und wird einem Kanton zugeteilt, dem Kanton St. Gallen. Vorläufig kann er also mit Rolf und Stefan – seinen Schweizer Freunden – in Kontakt bleiben kann. Ob er längerfristig in der Schweiz bleiben darf, ist aber ungewiss.
Rezas Flucht in die Schweiz dauerte dreizehn Monate. Zu Fuss ging er vom Iran in die Türkei, per Boot setzte er nach Griechenland über. «In Serbien habe ich mich zwischen zwei Güterwagen versteckt», erzählt er. «Es war gefährlich. Ein anderer Flüchtling erlitt einen Stromschlag.» Zwei Tage habe er zwischen den Wagen gelegen, schwarz vor Dreck und völlig durchnässt. Aber sein Glaube habe ihm geholfen: «Wäre Jesus nicht da, so wäre ich nicht da.» Diese Aussage kann man im doppelten Sinne verstehen. Denn der christliche Glaube ist für Reza beides: Grund seiner Flucht und neue Heimat zugleich.
*Namen der Redaktion bekannt. Zum Schutz vor Verfolgung sind die Bilder der Asylsuchenden verpixelt.
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Mithilfe gesucht: Die reformierte und die katholische Kirche betreiben in Altstätten gemeinsam das Café51, ein Begegnungscafé für Asylsuchende. Für den Betrieb sind sie auf freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen. Bei Interesse wenden Sie sich an Pfarrer Gregor Weber. gregor.weber@ref-sg.ch, 071 227 05 50.
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Text und Fotos: Stefan Degen – Kirchenbote SG, Juli-August 2020
«Eine Hälfte von mir ist noch im Iran, die andere Hälfte lebt hier»