«Eine tolerante Gesellschaft hat die Pflicht, sich gegen Intoleranz zu wehren.»

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02.02.2017
Die Anschläge von jungen Muslimen in europäischen Städten schockieren. Auch die reformierte Kirche beschäftigt sich mit der Radikalisierung. An prominent besetzten Tagungen und Podien fordern Islamkenner, dass der Staat, das Phänomen ernst nimmt.

Für den Berliner Ahmad Mansour ist es unverständlich, dass der Staat bei der Radikalisierung muslimischer Jugendlicher wegschaue. «Das ist naiv», so Mansour am Podium «Liberal, normal, radikal?» in der Offenen Kirche Elisabethen Basel. Der Psychologe weiss, wovon er spricht. In seiner Jugend war er selbst Islamist. Zurzeit wachse nicht nur in Deutschland eine Generation junger Muslime heran, welche die westlichen Werte und das Grundgesetz ablehnten. Diese Entwicklung habe für die Gesellschaft fatale Auswirkungen. Für Ahmad Mansour geht es nicht nur um potentielle «Gefährder», sondern um die Zivilgesellschaft. Diese werde polarisiert und destabilisiert.

Die Politik wage es nicht, sich kritisch zu äussern, um nicht in den Verdacht des Rassismus zu geraten, stellte Ahmad Mansour fest. Das sei falsch. «Wir brauchen Schulen, die den Jugendlichen kritisches Denken beibringen und die den Zweifel und die Diskussion zulassen.» Man müsse den Jugendlichen einen Islam anbieten, der mit dem Grundgesetz übereinstimme.

Wenn Schüler sich weigerten, ihrer Lehrerin die Hand zu geben, täten sie dies nicht aus kulturellen, sondern aus ideologischen Gründen. Etliche Muslime teilten dieses Islamverständnis, warnte Mansour. Sie seien Teil des Problems. Sie bildeten die Basis für die Radikalen. Ein Beispiel: Nach dem Anschlag auf einen Club in Ankara, bei dem 38 Menschen starben, lautete die vordringliche Frage in den arabischen Foren, was eine Frau in einem Nachtclub zu suchen habe, so Mansour.

Der Luzerner Religionswissenschaftler Johannes Saal sieht den Grund für die Radikalisierung in der Identitätssuche der Jugendlichen und den Schwierigkeiten bei der Integration. Das Desinteresse an den Problemen führt Saal darauf zurück, dass die Gesellschaft zu bequem geworden sei, Kanten zu zeigen und für ihre Werte einzustehen. «Eine tolerante Gesellschaft hat die Pflicht, sich gegen die Intoleranz zu verteidigen.»

Problematisches Religionsverständnis
Die religiöse Ideologie spiele eine Rolle, entgegnete Mansour. «Zum IS reisen keine Juden oder Christen, sondern Muslime.» Es sei entscheidend, ob eine Religion keine Kritik zulasse, Andersgläubige verteufle und die Welt in Opfer und Feindbilder einteile. In der öffentlichen Diskussion fragten sich Muslime nie, ob ihr Religionsverständnis problematisch sei. In vielen Moscheen werde gepredigt, dass die westliche Gesellschaft falsch sei.

Da stimmte ihm die Politologin und Islamkritikerin Elham Manea zu. «Unsere muslimischen Kinder werden radikalisiert und der Westen nimmt dieses Problem nicht ernst.» Die Lehrer und Lehrerinnen seien überfordert und erhielten keine Unterstützung.

Der Basler Integrationsbeauftragte Thomas Kessler zeichnete ein anderes Bild: In den Schulen «redet man mit den muslimischen Gemeinschaften Klartext, da gibt es keine Ausnahmen». Zudem sei die Situation in der Schweiz anders als in Deutschland und Frankreich. Lediglich zehn Prozent der Muslime besuchten eine Moschee. Und von diesen seien die wenigsten radikal.

Eine Untersuchung liefert Zahlen
Miryam Eser Davolio, Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, bestätigte die Wahrnehmung von Thomas Kessler. An einer Tagung des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes in Zürich zur Radikalisierung junger Muslime stellte sie eine breit angelegte Studie über die Hintergründe der Jihadisten in der Schweiz vor. Danach sind nur elf Prozent der jungen Muslime in der Schweiz religiös.

Gefährdet sei eine kleine Gruppe, sagte Davolio. Die Wissenschaftlerin fürchtet, dass das Gefühl, sich ständig für den Terror rechtfertigen zu müssen, Muslime ausgrenzt. «Man kann Leute auch in die Radikalität drängen.» Die Muslime hätten beispielsweise die Annahme der Minerettinitiative weit weniger gravierend empfunden als die dreimalige Ablehnung der erleichterten Einbürgerung.

Die Studie zeigt, dass die islamische Radikalisierung nicht nur eine religiöse, sondern eine politische Bewegung ist, die Parallelen zum Linksextremismus aufweist. Eine radikale Ideologie spreche junge Menschen an, die sozial schlecht integriert und psychisch labil sind und an der Ungerechtigkeit der Welt leiden, so Davolio. «Mit dem strengen Islam können sie ihre Familie schockieren und tyrannisieren.» Andere Betroffene, etwa in den Vororten von Genf, seien arbeitslos, trinken und rauchen. Im Islam fänden sie wieder Halt, Sinn und Orientierung.

Ansonsten gibt es gemäss der Studie kein klares Profil für Jihadreisende: Sie kommen aus verschiedenen Schichten, wissen oft wenig über Religion und stammen auch aus säkularen Familien.

Internet spielt wichtige Rolle
Bei der Radikalisierung spiele das Internet eine entscheidende Rolle, sagte Miryam Eser Davolio. «Die Propaganda des IS ist hochprofessionell.» Mantrahaft wiederhole sie in Blogs und Nachrichten, dass sich der verdorbene Westen gegen die Muslime verschworen habe und diese vernichten wolle. Die Lösung sei der Heilige Krieg für Gerechtigkeit und Humanität. Als Beweis unterlegt der IS dies mit grauenhaften Bildern aus den Kriegsgebieten. Umso bedeutender ist für Davolio die präventive Rolle der Moscheen und der Muslimvereine. Sie könnten korrigierend wirken und den Jugendlichen das Verständnis eines anderen Islams vermitteln.

Tilmann Zuber / Kirchenbote / 2. Februar 2017

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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