Einsam in der Stadt
«Mer gönd i d Stadt». Diese Ankündigung unserer Mutter weckte in meiner Kindheit Vorfreude und Erwartungen. Wenn wir nach einem längeren Fussmarsch und der Fahrt mit dem Bus, der damals noch 50 Rappen kostete, in St.Gallen ankamen, war das Staunen stets gross. Die vielen Leute, die grossen Häuser, die verlockenden Schaufenster und der besondere Duft in den Gassen und Geschäften faszinierten mich. Dabei hatte unser Stadtbesuch kaum etwas mit dem heute so beliebten Shoppen zu tun, bei dem durch die Strassen flaniert und hier und dort etwas betrachtet oder gekauft wird. Nein, die Einkaufsliste wurde sorgfältig geschrieben, um nichts von dem zu vergessen, was im kleinen Quartierlädeli oder beim Bäcker nicht erhältlich war. Damals konnte ich es kaum erwarten, alt genug zu sein, um allein oder mit Gleichalterigen zum ausgiebigen «Lädele» oder für einen Kinobesuch in die Stadt zu fahren.
Reisen, ohne wegzugehen
Doch meine Erwartungen erfüllten sich im späteren Leben nicht. Zwar geniesse ich es durchaus, zusammen mit anderen gelegentlich als Touristin durch eine Stadt zu schlendern. Ich besuche gerne kulturelle Anlässe oder lasse mir von ortskundigen Personen Besonderheiten zeigen oder geschichtlichen Zusammenhänge erklären. Doch es wird mir rasch zu viel. An mangelndem Interesse liegt es nicht. Lesend bereise ich fremde Länder und Städte. Ich lasse mich von deren Kultur, Menschen, Geschichte oder Architektur in eine andere Welt entführen und sehe in meiner Vorstellung alles vor mir. Auch durch Filme und Reiseberichte gehe ich gerne auf Entdeckungsreise. Nur das echte Fernweh fehlt mir und Sehnsucht nach Grossstädten, Hochbetrieb und vielen Menschen kenne ich nicht.
Bedrückende Anonymität
Lässt sich der Gang in eine Stadt, auch wenn es nur St.Gallen ist, nicht vermeiden, überkommt mich regelmässig das Gefühl, mittendrin in alle den Menschen, der Geschäftigkeit und dem Lärm sehr einsam zu sein. Die Anonymität bedrückt mich. Zu sehen, wie viele Menschen mit abwesendem Gesichtsausdruck, dem Handy am Ohr oder den Kopfhörern in den Ohren durch die Gassen hasten, verstärkt dieses Gefühl des Nichtdazugehörens. Trifft mein Blick dann plötzlich strahlende Kinderaugen, werde ich in einem Geschäft aufmerksam und freundlich bedient oder lacht jemand unverhofft, geht es mir schon bedeutend besser.
Geborgen in der Weite
Wirklich wohl ist mir jedoch erst wieder, wenn ich heimkomme, wo sich die meisten Menschen auf der Strasse grüssen, vielleicht ein paar Worte wechseln oder von Weitem zuwinken. Dort, wo nachts der Strassenlärm fast verstummt und dafür Kuhglocken hörbar sind, wo nachts die Sterne ohne Lichtverschmutzung funkeln und am Tag die Hügel des Appenzellerlandes, das Nachbardorf und der weite Himmel in seiner Pracht zu sehen sind. Dort fühle ich mich auch alleine nicht einsam.
Einsam in der Stadt