Erfahrungen aus dem Gehörlosenpfarramt
Ich bin mit einem gehörlosen Vater aufgewachsen, denn er war im Kindergartenalter infolge einer Hirnhautentzündung ertaubt. Er war ganz auf die orale Kommunikation ausgerichtet, wie das damals unter Gehörlosen in der Schweiz üblich war, das Gebärden galt als verpönt (bis ab ca. 1980 eine Gegenbewegung einsetzte, welche sich für die GS stark machte).
Ich hatte damit keinen Vorteil bezüglich Gebärdensprache, doch immerhin hatte ich schon ein Verständnis für die Bedürfnisse und Besonderheiten von gehörlosen Menschen erworben. Das Erlernen der GS war eine rechte Herausforderung. Nach vier Semestern wagte ich eine erste Predigt mit Laut- und Gebärdensprache parallel. Eigentlich war es Lautsprache mit Gebärden begleitet. Diese Predigt brachte mich echt ins Schwitzen. Die Predigt zu sprechen und gleichzeitig zu gebärden, erschien mir damals, aber auch heute noch wie Höchstarbeit fürs Gehirn. Zum Glück haben wir auch GebärdensprachdolmetscherInnen, welche für uns übersetzen können.
In unserer evang.-ref. Gehörlosengemeinde Ostschweiz, die ökumenisch ausgerichtet ist, kennen sich fast alle wie in einem Verein. Die meisten besuchten schon miteinander die Sprachheilschule St. Gallen. Unser Gehörlosenpfarramt wurde 1951 von den reformierten Kantonalkirchen St. Gallen, Appenzell und Glarus geschaffen. Später beteiligten sich auch die Thurgauer und Bündner Kirche. Wir bieten regelmässig Gottesdienste für Gehörlose an.
Gehörlosengemeinden verändern sich
Wir haben eine treue Gemeinde. Doch sie verändert sich langsam. Unsere Gemeindemitglieder werden älter und es kommen kaum mehr Junge nach. Die letzte Konfirmation fand 2008 statt. Das passiert aber auch in anderen Gehörlosengemeinden und es betrifft auch die Gehörlosenvereine. Derjenige im Kanton Glarus besitzt seit 54 Jahren das Berghaus Tristel in Elm und unterhielt und bewirtschaftete es mit viel Fronarbeit. Doch nun muss sich der Verein überlegen, das Haus zu verkaufen. Es fehlen die jüngeren Mitglieder, welche mithelfen könnten. Der Verein wird älter und kleiner.
Leben in der Stille
Viele jüngere Gehörlose haben ein Cochleaimplantat, also ein künstliches Gehör/ Ohr, mit dem sie in die Welt der Hörenden besser integriert werden können. Es gelingt aber nicht immer und viele Gehörlose sind mit ihrem Leben in der Stille zufrieden. Wegen dem Implantat und weil auch gewisse Krankheiten, die manchmal zu Gehörlosigkeit führen, heute seltener vorkommen, gibt es weniger Gehörlose.
Behinderte Kommunikation
Gehörlos/ hörbehindert sein bedeutet: man ist gehindert, schnell und einfach mit den Hörenden zu kommunizieren. Man ist darauf angewiesen, dass das Gegenüber langsam und deutlich hochdeutsch spricht, so kann man von den Lippen ablesen. Man kann seine eigene Stimme nicht hören, und weiss nicht, wie die Hörenden reagieren, wenn man mit einer besonderen Stimme spricht. Das kann Hemmungen auslösen. Und überhaupt, können Sie sich, liebe Lesende, vorstellen, keine Musik zu hören? Wohl nicht. Dafür sind Gehörlose von jeglichem Lärm verschont. Haben Sie schon erlebt, wie mühsam es sein kann, in einem Saal, wo viele Menschen versammelt sind, sich akustisch zu verständigen? Manchmal herrschen ein Stimmengewirr und ein hoher Lärmpegel. Wenn aber Gehörlose miteinander in einem Saal sprechen, bleibt es angenehm ruhig. Als gehörlose Person zu leben ist eine Herausforderung. Zum Glück helfen die modernen Kommunikationsmittel wie Videotelefon, Videobotschaften und Mails, einfacher miteinander zu kommunizieren. Und zum Glück gibt es DolmetscherInnen, deren Dienste man beispielsweise zum Gespräch mit einem Arzt, auf einem Amt oder am Arbeitsplatz in Anspruch nehmen kann.
Ruedi Hofer, Pfarrer Gehörlosenpfarramt St. Gallen
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